03 February 2017

T 1286/14 - Review not admitted grounds

Key points

  • The Opposition Division had not admitted the late-filed ground of added subject-matter into the procedure. The argument had been resubmitted by the Opponent with its Notice of appeal. 
  • The Board uses the opportunity to explain that in such cases it can only review how the OD has exercised its discretion and may not admit the ground of its own motion, in the absence of the consent of the patent proprietor, under G 10/91. 


T 1286/14 -  link


Entscheidungsgründe
1. ANSPRÜCHE WIE ERTEILT (HAUPTANTRAG)
1.1 Der erteilte Anspruch 1 (gemäß der Merkmalsgliederung der Beschwerdeführerin) umfasst die folgenden Merkmale:
a) Anlage umfassend mindestens zwei Aktorbaugruppen und eine Busleitung zur Verbindung der zwei Aktorbaugruppen, wobei
b) die Busleitung einen Kommunikationskanal und einen Kommunikationsspannungsversorgungskanal aufweist;
c) die mindestens zwei Aktorbaugruppen jeweils eine Systemschnittstelle aufweisen, welche zum Anschluss der Busleitung an die Aktorbaugruppen in einem Steuerungssystem ausgebildet sind;
d) die Systemschnittstelle einen K-Anschluss zur Verbindung des Kommunikationskanals, einen K-U-Anschluss zur Verbindung des Kommunikationsspannungsversorgungskanals und einen A-U-Anschluss zur Verbindung eines Aktorspannungsversorgungskanals aufweist;
e) die Aktorspannungsversorgung unter Zwischenschaltung einer Not-Aus-Vorrichtung in eine der Aktorbaugruppen oder in die Busleitung eingespeist wird;
f) die Not-Aus-Vorrichtung eine Abschaltung der Aktorbaugruppen bewirkt;
g) eine Betätigung der Not-Aus-Vorrichtung über den Kommunikationskanal übermittelbar ist.
1.2 Zulassung des Einspruchsgrunds nach Artikel 100 c) EPÜ
1.2.1 Die Beschwerdeführerin [Opponent] trug im schriftlichen wie mündlichen Beschwerdeverfahren vor, dass Anspruch 1 wie erteilt nicht die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ erfülle, da das Verwenden des Begriffs "Busleitung" gemäß Merkmale a)a) , b) und c) eine unzulässige Verallgemeinerung der laut ursprünglicher Beschreibung zwischen zwei Aktorbaugruppen mit drei Anschlüssen eingesetzten, als Dreidrahtleitung realisierten "Systembusleitung 12" darstelle. 
Daher sei dieser Einwand, im Gegensatz zur Feststellung in der angefochtenen Entscheidung, prima facie relevant im Sinne von G 10/91 und müsse von der Kammer in das Beschwerdeverfahren nicht nur zugelassen, sondern auch - nach einer sachlichen Überprüfung - als der Aufrechterhaltung des Streitpatents entgegenstehend betrachtet werden.
1.2.2 Aus der vorliegenden Akte geht hervor, dass die Beschwerdeführerin den obigen Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) in Verbindung mit 123(2) EPÜ gegen Anspruch 1 wie erteilt erstmals mit ihrem Schreiben vom 11. Februar 2014 im Einspruchsverfahren erhoben hatte (vgl. Punkt I oben). Somit wurde dieser Einwand nicht rechtzeitig mit der Einspruchsschrift gemäß Artikel 99(1) in Verbindung mit Regel 76(2) c) EPÜ und folglich verspätet im Sinne von Artikel 114(2) EPÜ vorgebracht. Die Einspruchsabteilung hat diesen Einspruchsgrund nicht in das Einspruchsverfahren zugelassen mit der Begründung, dass er verspätet vorgebracht und prima facie nicht relevant sei (vgl. angefochtene Entscheidung, Gründe 14). Dennoch hat die Beschwerdeführerin diesen Einwand in ihrer Beschwerdebegründung nochmals geltend gemacht (vgl. Punkt III oben). Zur Klärung der Frage, ob nun - wie von der Beschwerdeführerin gefordert - eine sachliche Überprüfung der erstinstanzlichen Ermessensentscheidung in der Tat geboten ist, bedarf es nach Auffassung dieser Kammer einer Auslegung der einschlägigen Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer.


1.2.3 Leitsatz 3 der Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer im Fall G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420), der mit der Sache G 9/91 (ABl. EPA 1993, 408) verbunden wurde, besagt (in der deutschen Übersetzung und mit Hervorhebungen durch diese Kammer):
"Im Beschwerdeverfahren dürfen neue Einspruchsgründe nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden."
Darüber hinaus führt G 10/91 (und gleichlautend G 9/91) in den letzten zwei Sätzen von Nummer 18 der Gründe Folgendes aus (Hervorhebungen durch diese Kammer):
"Ergänzend sei darauf hingewiesen, daß die Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung sachlich in keiner Weise auf einen neuen Einspruchsgrund eingehen darf, wenn der Patentinhaber seiner Einführung in das Verfahren nicht zugestimmt hat. Zulässig ist dann nur der Hinweis, daß die Frage aufgeworfen worden ist."
Zur Frage der genauen Definition des Begriffs "neuer Einspruchsgrund" gibt ferner die spätere Entscheidung in der Sache G 1/95 (ABl. EPA 1996, 615), die mit dem Fall G 7/95 (ABl. EPA 1996, 626) verbunden wurde, in Nummer 5.3 der Gründe (in der deutschen Übersetzung und mit Hervorhebungen durch diese Kammer) Folgendes an:
"Die Große Beschwerdekammer hat den Begriff 'neuer Einspruchsgrund' in ihrer Stellungnahme G 10/91 erstmals unter Nummer 18 benutzt ... Es liegt auf der Hand, daß damit ein Einspruchsgrund gemeint ist, der weder in der Einspruchsschrift geltend gemacht und substantiiert noch von der Einspruchsabteilung in Anwendung des Artikels 114(1) EPÜ unter Beachtung der in G 10/91 unter Nummer 16 aufgestellten Grundsätze in das Verfahren eingeführt worden ist."
Damit wurde die frühere, z.B. in T 986/93 (ABl. EPA 1996, 215, Gründe 2.3, vierter Absatz) verwendete Definition des Begriffs "neuer Einspruchsgrund" abgelöst. Dort wurde nämlich hierunter noch ein Einspruchsgrund verstanden, der zum allerersten Mal im Beschwerdeverfahren geltend gemacht wurde.
Zu den in G 10/91 (und gleichlautend G 9/91), Nummer 16 für die Anwendung des Artikels 114(1) EPÜ im Zusammenhang mit der damaligen Regel 55 c) EPÜ (jetzt Regel 76(2) c) EPÜ) aufgestellten Grundsätzen wird unter Nummer 16 wiederum Folgendes angeführt (Hervorhebungen durch diese Kammer):
"... Daher kann eine Einspruchsabteilung in Anwendung des Artikels 114(1) EPÜ einen durch die Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ nicht abgedeckten Einspruchsgrund von sich aus vorbringen oder einen solchen vom Einsprechenden ... nach Ablauf der Frist gemäß Artikel 99(1) EPÜ vorgebrachten Grund prüfen. Die Große Beschwerdekammer legt aber zugleich Wert auf die Feststellung, daß die Einspruchsabteilung nur dann ... über den eigentlichen Inhalt der Erklärung gemäß Regel 55 c) EPÜ hinausgehende Einspruchsgründe prüfen sollte, wenn prima facie triftige Gründe dafür sprechen, daß diese Einspruchsgründe relevant sind und der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenstehen würden. Natürlich sollte dabei auch bedacht werden, daß nach Artikel 114(2) EPÜ die Möglichkeit besteht, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zur Stützung neuer Einspruchsgründe unberücksichtigt zu lassen."
1.2.4 Diese Kammer interpretiert die obigen Textstellen von G 10/91 in Verbindung mit G 1/95 nun so, dass im Falle der Nichtzulassung eines wie oben definierten "neuen Einspruchsgrunds" durch die Einspruchsabteilung - bei gleichzeitigem Fehlen des Einverständnisses des Patentinhabers, diesen Grund doch zuzulassen - es einer Beschwerdekammer lediglich obliegt, zu überprüfen, ob die Einspruchsabteilung tatsächlich geprüft hat, dass dieser Grund auch prima facie relevant ist und dies auch in der Sache begründet wurde. Das bedeutet wiederum, dass anstatt - wie in der überholten Entscheidung T 986/93 (vgl. Gründe 2.6) - zu überprüfen, ob die Einspruchsabteilung die Prüfung der prima facie Relevanz des neuen Einspruchsgrunds sachlich "richtig" vorgenommen hat - nach der obigen Interpretation von G 10/91 und G 1/95 nur überprüft werden sollte, ob überhaupt die prima facie Relevanz des neuen Einspruchsgrunds nachweislich überprüft wurde. Mit anderen Worten ist hier eine beschränkte Ermessensüberprüfung von Seiten einer Beschwerdekammer durchzuführen.
1.2.5 Für den vorliegenden Fall stellt diese Kammer indes fest, dass
- der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ nicht in der Einspruchsschrift geltend gemacht und substanziiert wurde (vgl. Punkt I oben);
- er nicht von der Einspruchsabteilung in das Einspruchsverfahren eingeführt wurde (vgl. Punkt I oben);
- die Einspruchsabteilung hierbei - gemäß den in Nummer 16 von G 10/91 aufgestellten Grundsätzen - nachweislich geprüft hat, ob (i) prima facie triftige Gründe für dessen Zulassung sprechen, (ii) er relevant ist und (iii) er der Aufrechterhaltung des Streitpatents ganz oder teilweise entgegensteht (vgl. angefochtene Entscheidung, Gründe 14), und zwar unabhängig davon, ob die entsprechende Prüfung auch sachlich richtig war.
1.2.6 Aus dem Obigen folgert die Kammer, dass der mit der Beschwerdebegründung erneut vorgebrachte Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ als "neuer Einspruchsgrund" im Sinne von G 10/91 mit G 1/95 zu betrachten ist. Da zudem die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) im Beschwerdeverfahren ausdrücklich ihr Einverständnis zu seiner Einführung in das Beschwerdeverfahren verweigert hat (vgl. Punkte IV und VI oben), darf dieser Einspruchsgrund nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden. Mithin geht die Kammer in Anlehnung an G 10/91 (Nummer 18 der Gründe; siehe Punkt 1.2.3 oben) sachlich auch nicht auf den vorgebrachten Einspruchsgrund ein und weist demzufolge lediglich darauf hin, dass diese Frage im vorliegenden Verfahren aufgeworfen wurde.
Im Zusammenhang mit der Prüfung der Zulassung eines "neuen Einspruchsgrunds" bei fehlendem Einverständnis des Patentinhabers im Beschwerdeverfahren folgt sie somit der einer beschränkten Ermessensüberprüfung zuzuordnenden Vorgehensweise in den Fällen T 736/95 vom 9. Oktober 2000 (Gründe 5), T 1519/08 vom 16. Dezember 2011 (Gründe 3.3) bzw. T 1592/09 vom 21. Oktober 2011 (Gründe 2.6) und kann sich nicht der auf einer Ermessensüberprüfung mit detaillierter sachlicher Überprüfung der erstinstanzlichen Ermessensentscheidung fußenden Herangehensweise anschließen, wie sie z.B. in den Fällen T 1053/05 vom 22. Februar 2007 (Gründe 3 bis 17) und T 1142/09 vom 10. Juni 2013 (Gründe 1.5.1), in denen G 1/95 bzw. G 7/95 nicht erwähnt wurde, bzw. in der Sache T 620/08 vom 4. Mai 2011 (Gründe 3.4 bis 3.7), in der sich die Kammer hauptsächlich auf T 986/93 berief, durchgeführt wurde.

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