15 June 2020

T 0584/17 - May rely on Art.13(1) criteria

Key points

  • The Board notes that Art. 13(2) RPBA 2020 does not refer to Art. 13(1) RPBA. The Expl. Note says that “At the third level of the convergent approach, the Board may also rely on criteria applicable at the second level of the convergent approach, i.e. as set out in Art. 13(1).”.
  • The Board interprets this the term ‘may’ as giving the Board the freedom (possibility) to use the criteria of Art. 13(1) for submissions filed in the ‘third stage’ (typically: after the notification of the summons).


EPO T 0584/17 - link


EPO Headnote

In der dritten Stufe des nach der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) im Beschwerdeverfahren anzuwendenden Konvergenzansatzes steht es der Kammer frei, die in Artikel 13 (1) VOBK 2020 angegebenen Kriterien heranzuziehen, wenn sie in Anwendung des Artikels 13 (2) VOBK 2020 und in Ausübung ihres Ermessens darüber entscheidet, ob eine in diesem Verfahrensstadium vorgenommene Änderung zugelassen wird. Dies gilt auch, wenn Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht anwendbar ist und stattdessen weiterhin Artikel 13 VOBK 2007 anzuwenden ist. (Siehe Punkte 1.2.7 bis 1.2.11 der Entscheidungsgründe)





Entscheidungsgründe


1.2 Dokument D17

1.2.1 Das Dokument D17 wurde von der Beschwerdeführerin mit der Beschwerdebegründung eingereicht und es wurde dazu ausgeführt, dass dieses Dokument als Patentliteratur im Dokument D4a zitiert sei und in Reaktion auf die überraschende Entscheidung der Einspruchsabteilung, dass das Merkmal M5d doch nicht im Dokument D6 offenbart sei, eingereicht worden sei. Im Laufe der Diskussion in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer über die Zulassung des Dokuments D17 in das Beschwerdeverfahren nahm die Beschwerdegegnerin ihren im schriftlichen Verfahren erhobenen Einwand gegen die Zulassung des Dokuments D17 zurück. Daraufhin nahm die Beschwerdeführerin ihren Antrag, das Dokument D17 in das Verfahren zuzulassen, zurück.

1.2.2 In Reaktion darauf wiederum beantragte die Beschwerdegegnerin erstmals in der mündlichen Verhandlung die Zulassung des Dokuments D17 und der dazu bereits gemachten Ausführungen in das Verfahren.

1.2.3 Die Kammer sieht dies als ein geändertes Vorbringen der Beschwerdegegnerin im Sinne von Artikel 13 (1) und (3) VOBK 2007, der gemäß Artikel 25 (3) VOBK 2020 im vorliegenden Fall statt des Artikels 13 (2) VOBK 2020 weiterhin anzuwenden ist, da die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor Inkrafttreten der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern zugestellt wurde.

1.2.4 Nach Artikel 13 (1) VOBK 2007 steht es im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung zuzulassen und zu berücksichtigen. Bei der Ausübung dieses Ermessens werden insbesondere die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie berücksichtigt. Artikel 13 (3) VOBK 2007 ergänzt, dass Änderungen des Vorbringens nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung nicht zugelassen werden, "wenn sie Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder dem bzw. den anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist".

1.2.5 Die in Artikel 13 (1) VOBK 2007 beispielhaft aufgezählten Kriterien für die Ermessensausübung stellen keine abschließende Auflistung von Kriterien dar, sodass auch andere Überlegungen und etablierte, für die Frage der Zulässigkeit relevante Kriterien berücksichtigt werden können (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 9. Auflage 2019, V.A.4.1.2). Auch müssen diese Kriterien nicht kumulativ erfüllt sein. Nach der im Rahmen von Artikel 13 (1) und (3) VOBK 2007 entwickelten Rechtsprechung der Beschwerdekammern können bei geändertem Vorbringen i.S.v. Artikel 13 VOBK 2007, wie spät eingereichte Tatsachen und Beweismittel, auch weitere Kriterien angewandt werden, wie u. a. die Relevanz des verspäteten Vorbringens, überzeugende Gründe für das verspätete Vorbringen, ob das verspätete Vorbringen als ein Verfahrensmissbrauch zu werten ist oder ob es eine angemessene und alsbaldige Reaktion auf Vorgänge im bisherigen Verfahren darstellt (siehe z.B. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, supra, V.A.4.13). Bei der Ermessensausübung ist nach der ständigen Rechtsprechung allen im jeweiligen Fall rechtserheblichen Faktoren Rechnung zu tragen, und es sind bei der Ausübung dieses Ermessens die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, supra, V.A.4.3).

1.2.6 Im vorliegenden Fall reichte die Beschwerdeführerin das Dokument D17 bereits mit ihrer Beschwerdebegründung ein und begründete, warum dieses Dokument für die Frage der erfinderischen Tätigkeit relevant sei. Die Zulassung dieses Dokuments und dessen Relevanz wurde auch in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer diskutiert bevor die Beschwerdeführerin ihren Antrag auf Zulassung des Dokuments D17 zurücknahm.
Deshalb ist die Kammer der Ansicht, dass die Beschwerdegegnerin durch die Änderung ihres Vorbringens in der mündlichen Verhandlung keine neuen Fragen aufgeworfen hat. Auch erfolgte diese Änderung in unmittelbarer Reaktion auf die Rücknahme ihres Antrags auf Zulassung des Dokuments D17 seitens der Beschwerdeführerin, so dass das Beschwerdeverfahren auch nicht verzögert wurde.
Der Inhalt des Dokuments D17 wirft nach Ansicht der Kammer auch keine komplexen Fragen auf, deren Behandlung der Kammer oder der Beschwerdeführerin, die dieses Dokument erstmals selbst im Beschwerdeverfahren vorgebracht hat, ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten gewesen wäre. In Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13 (1) und (3) VOBK 2007 und unter Berücksichtigung der im Rahmen von Artikel 13 (1) und (3) VOBK 2007 entwickelten Rechtsprechung (siehe oben Punkt 1.2.5) ließ die Kammer daher das Dokument D17 und den dazu ergangenen Vortrag der Beschwerdegegnerin in das Beschwerdeverfahren zu.

1.2.7 Darüber hinaus wurde in einigen jüngsten Entscheidungen die Auffassung vertreten, dass in Fällen, in denen wie im vorliegenden Fall Artikel 13 VOBK 2007 anstatt Artikel 13 (2) VOBK 2020 weiterhin anzuwenden ist, zusätzlich Artikel 13 (1) VOBK 2020 Anwendung findet, da Artikel 25 VOBK 2020 dies nicht ausschließe (siehe z.B. die Entscheidungen T 634/16 vom 10. Januar 2020, Punkte 7 bis 14 der Entscheidungsgründe, und T 32/16 vom 14. Januar 2020, Punkte 1.1.1 bis 1.1.3 der Entscheidungsgründe).

1.2.8 Im vorliegenden Fall hält es die Kammer jedoch für nicht erforderlich, die in Artikel 13 (1) VOBK 2020 angegebenen Kriterien zusätzlich zu den Kriterien, die bei der Ermessensausübung nach Artikel 13 VOBK 2007 berücksichtigt werden können (siehe oben Punkte 1.2.4 und 1.2.5), heranzuziehen.

1.2.9 In Fällen, in denen die Ladung am oder nach dem 1. Januar 2020 zugestellt wurde, implementiert Artikel 13 (2) VOBK 2020 die dritte Stufe des im Beschwerdeverfahren anzuwendenden Konvergenzansatzes (siehe Dokument CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Artikel 13 (2), 1. Absatz, Satz 1; siehe auch Zusatzpublikation 2 zum ABl. EPA 2020). Er sieht die am weitesten reichenden Beschränkungen für Beschwerdevorbringen vor, das erst in einem vorgerückten Verfahrensstadium erfolgt, nämlich nach Ablauf einer Frist, die die Kammer in einer Mitteilung nach Regel 100 Absatz 2 EPÜ bestimmt hat, oder, wenn keine solche Mitteilung ergeht, nach Zustellung einer Ladung zur mündlichen Verhandlung (siehe Dokument CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Artikel 13 (2), 1. Absatz, Satz 2). Nach dem Wortlaut des Artikels 13 (2) VOBK 2020 werden Änderungen in der dritten Stufe des Konvergenzansatzes grundsätzlich nicht mehr berücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen. Jedoch gilt auch hier, dass die Kammer in Ausübung ihres Ermessens entscheiden kann, eine in diesem Verfahrensstadium vorgenommene Änderung zuzulassen (siehe Dokument CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Artikel 13 (2), 3. Absatz, letzter Satz).

1.2.10 Zu der Frage, ob in der dritten Stufe des Konvergenzansatzes zusätzlich zu den Bestimmungen des Artikels 13 (2) VOBK 2020 auch Artikel 13 (1) VOBK 2020 heranzuziehen ist, stellt die Kammer zunächst fest, dass der Wortlaut des Artikels 13 (2) VOBK 2020 keinen ausdrücklichen Verweis auf den Absatz 1 dieses Artikels enthält. Nur die Erläuterungen zu Artikel 13 (2) VOBK 2020 enthalten zu dieser Frage Folgendes:

"In der dritten Stufe des Konvergenzansatzes kann die Kammer auch Kriterien heranziehen, die für die zweite Stufe des Konvergenzansatzes, d. h. nach dem vorgeschlagenen neuen Artikel 13 Absatz 1, maßgeblich sind." (Dokument CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Artikel 13 (2), 4. Absatz; Hervorhebung durch die Kammer)

Die Kammer folgert daraus, dass es der Kammer in der dritten Stufe des im Beschwerdeverfahren anzuwendenden Konvergenzansatzes freisteht, die in Artikel 13 (1) VOBK 2020 angegebenen Kriterien heranzuziehen, wenn sie in Anwendung des Artikels 13 (2) VOBK 2020 und in Ausübung ihres Ermessens darüber entscheidet, ob eine in diesem Verfahrensstadium vorgenommene Änderung zugelassen wird.

Insofern unterscheidet sich Artikel 13 (2) VOBK 2020 auch von Artikel 13 (1) VOBK 2020. Anders als in Artikel 13 (2) VOBK 2020, hat der Gesetzgeber in Artikel 13 (1) VOBK 2020 durch den ausdrücklichen Verweis in Satz 2 auf den neuen Artikel 12 (4) bis (6) VOBK 2020 klargestellt, dass die in diesen Absätzen angegebenen und bereits in der ersten Stufe des im Beschwerdeverfahren anzuwendenden Konvergenzansatzes maßgeblichen Kriterien auch für jegliches Vorbringen in der zweiten Stufe des im Beschwerdeverfahren anzuwendenden Konvergenzansatzes entsprechend gelten (siehe auch Dokument CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Artikel 13 (1), 2. Absatz, Satz 2).

1.2.11 Die Kammer vertritt die Auffassung, dass es ihr in der dritten Stufe des Konvergenzansatzes auch dann freisteht, die in Artikel 13 (1) VOBK 2020 angegebenen Kriterien bei ihrer Ermessensentscheidung zusätzlich heranzuziehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht anwendbar ist und stattdessen weiterhin Artikel 13 VOBK 2007 anzuwenden ist. Es ist weder aus den Übergangsbestimmungen des Artikels 25 VOBK 2020 noch aus den Erläuterungen dazu ersichtlich, warum bei Anwendung des Artikels 13 VOBK 2007 in der dritten Stufe des Konvergenzansatzes hinsichtlich der in Artikel 13 (1) VOBK 2020 angegebenen Kriterien etwas anderes gelten sollte als bei der Anwendung des Artikels 13 (2) VOBK 2020.

1.2.12 Nach Ansicht der Kammer entsprechen die Kriterien zur Ermessensausübung in Artikel 13 (1) VOBK 2020 jedoch im Wesentlichen den Kriterien, die von der einschlägigen Rechtsprechung im Rahmen von Artikel 13 (1) VOBK 2007 entwickelt wurden (siehe dazu auch die Entscheidungen T 634/16, Punkt 14, zweiter Absatz der Entscheidungsgründe und T 32/16, Punkt 1.1.3, zweiter Absatz der Entscheidungsgründe). Nachdem die Kammer bei ihrer vorliegenden Ermessensentscheidung nach Artikel 13 (1) und (3) VOBK 2007 über die Zulassung des Dokuments D17 in das Beschwerdeverfahren bereits die in
Artikel 13 (1) und (3) VOBK 2007 genannten Kriterien und auch die dazu von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien berücksichtigt hat (siehe oben Punkte 1.2.4 bis 1.2.6), sah sie im vorliegenden Fall keinen Grund, die in Artikel 13 (1) VOBK 2020 angegebenen Kriterien zusätzlich heranzuziehen.

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