26 April 2017

T 1816/11 - Review of Rule 137(3)

EPO headnote
Informal translation:
In case a discretionary decision of the Examining Division to hold a request inadmissible, is based on substantive grounds and not on procedural ground, the principles set out in G 7/93 are not applicable. Rather, the substantive assessments (of clarity, inventive step, etc.) which are involved in the discretionary decision, and which concern the core of the review competence of the Board, are open to review.

Falls eine Ermessensentscheidung der Prüfungsabteilung, einen Antrag nicht zuzulassen, aus materiellrechtlichen Gründen und nicht aus verfahrensrechtlichen Gründen getroffen wurde, können die in der Entscheidung G 7/93 aufgestellten Grundsätze nicht zur Anwendung kommen. Zur Überprüfung steht vielmehr die Ermessensentscheidung eingeflossene materiellrechtliche Wertung (Klarheit; erfinderische Tätigkeit u.s.w.), die den Kern der Überprüfungskompetenz der Beschwerdekammern betrifft (siehe Punkt 2.6 der Entscheidungsgründe).


  • The Board recalls that G 7/93 concerned the case of not admitting new requests filed after the applicant had approved the claims of essentially the intention to grant. Hence, the limited review prescribed in that decision does not extend to decisions do not admit requests under Rule 137(3) if these are based on an assessment of (prima facie) allowability.


EPO T 1816/11 -  link


Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Hauptantrag: Zulässigkeit
2.1 Die Prüfungsabteilung hat den Hauptantrag in Ausübung ihres Ermessens gemäß Regel 137(3) EPÜ nicht in das Prüfungsverfahren zugelassen.
Mit ihrer Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin denselben Antrag erneut gestellt und seine Zulassung in das Verfahren beantragt. Im Verlauf der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat sie einen neuen Anspruch 1 des Hauptantrags eingereicht. Die Kammer stellt fest, dass zumindest einige der behaupteten Mängel der vorherigen Fassung von Anspruch 1, die zur Nichtzulassung des Hauptantrags geführt haben, in der gegenwärtigen Fassung fortbestehen (siehe Punkte 1.3 bis 1.5 der Gründe der angefochtenen Entscheidung).
Es stellt sich somit die Frage der Zulässigkeit des Hauptantrags im Beschwerdeverfahren.
2.2 Gemäß Artikel 12 (4) VOBK hat die Kammer die Befugnis, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind. Die Befugnis, solche Anträge nicht zuzulassen, impliziert im Umkehrschluss die Berechtigung zur Zulassung.
2.3 Dem steht nicht entgegen, dass die Beschwerdekammern nach ihrer ständigen Rechtsprechung in ihrer Kompetenz zur Überprüfung von Ermessensentscheidungen der ersten Instanz unter bestimmten Umständen beschränkt sind.
In ihrer Entscheidung G 7/93 befasste sich die Große Beschwerdekammer unter anderem mit der Überprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen nach Regel 86 (3) EPÜ 1973 (entspricht Regel 137(3) EPÜ 2000), Änderungen der Europäischen Patentanmeldung im Prüfungsverfahren zuzulassen. Unter Punkt 2.6 der Entscheidungsgründe hat sich die Große Beschwerdekammer wie folgt geäußert:
"Wenn eine Prüfungsabteilung in einem konkreten Einzelfall in Ausübung ihres Ermessens nach Regel 86 (3) EPÜ gegen den Anmelder entschieden hat und dieser die Art und Weise der Ermessensausübung mit einer Beschwerde anficht, ist es nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die Sachlage des Falls nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte. Ein erstinstanzliches Organ, das nach dem EPÜ unter bestimmten Umständen Ermessensentscheidungen zu treffen hat, muß nämlich bei der Ausübung dieses Ermessens einen gewissen Freiraum haben, in den die Beschwerdekammern nicht eingreifen. In Fällen wie demjenigen, der bei der vorlegenden Kammer anhängig ist, sollte sich eine Beschwerdekammer nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluß gelangt, daß die erste Instanz ihr Ermessen nicht nach Maßgabe der unter Nummer 2.5 dargelegten richtigen Kriterien oder in unangemessener Weise ausgeübt und damit den ihr eingeräumten Ermessensspielraum überschritten hat."
Diese Auffassung ist in der Literatur auf Zustimmung gestoßen (siehe z.B. Günzel, Sonderausgabe ABl. EPA, 2/2007, Seite 30 - 47, Punkt 7).
Auch die Beschwerdekammern sind diesem Ansatz grundsätzlich gefolgt (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 8. Aufl. (2016), IV.C.1.2.2a).
2.4 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass diese Beschränkung der Entscheidungsbefugnis der Beschwerdekammern nach der zitierten Passage der Entscheidung G 7/93 ausdrücklich nur in "Fällen wie demjenigen, der bei der vorlegenden Kammer anhängig ist" gelten soll.
Dieser Fall war dadurch gekennzeichnet, dass die Prüfungsabteilung die Anmelderin zunächst in einer Mitteilung nach Regel 51(4) EPÜ 1973 um ihr Einverständnis mit dem Text des zu erteilenden Patents gebeten hat, die Anmelderin ihr Einverständnis fristgemäß erklärt hat, die Prüfungsabteilung die Anmelderin deshalb aufgefordert hat, die nach Regel 51(6) EPÜ 1973 erforderlichen weiteren Handlungen (Zahlung der Gebühren und Vorlage von Übersetzungen) vorzunehmen und die Anmelderin daraufhin ihre Zustimmung zu dem Text widerrufen und Änderungen an der Anmeldung vorgenommen hat. In dieser Situation hat die Prüfungsabteilung in Ausübung ihres Ermessens nach Regel 86(3) EPÜ 1973 entschieden, diese Änderungen nicht zu akzeptieren und die Anmeldung zurückzuweisen.
Zusammenfassend betraf die Entscheidung G 7/93 eine Ermessensentscheidung der Prüfungsabteilung, die lediglich die Verfahrensführung vor dieser Abteilung zum Gegenstand hatte, wobei der späte Zeitpunkt der Änderung wesentlich war.
2.5 Im vorliegenden Fall ist der Sachverhalt hingegen anders gelagert. Die Prüfungsabteilung hat hier zwar ebenfalls nach Regel 137(3) EPÜ (entspricht Regel 86(3) EPÜ 1973) entschieden.
Regel 137(3) EPÜ hat jedoch einen breiten Anwendungsbereich. Nach dieser Vorschrift können nach der Erwiderung auf Mitteilungen des Europäischen Patentamts nach Regel 70a(1), (2) oder Regel 161 Absatz 1 EPÜ Änderungen einer europäischen Patentanmeldung nur mit Zustimmung der Prüfungsabteilung vorgenommen werden. Die Zulassung solcher Änderungen steht somit in das Ermessen der Prüfungsabteilung. Die Prüfungsabteilung hat die Ausübung ihres Ermessens zu begründen, einen Antrag nicht zuzulassen (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamtes, 8. Auflage 2016, IV.B.2.6.1). Dabei ist die Nichtzulassung von Änderungen nach Regel 137 (3) EPÜ nicht auf Verspätungsfälle beschränkt. Vielmehr kann eine solche Ermessensentscheidung aus materiellrechtlichen Gründen, aus verfahrensrechtlichen Gründen oder auf eine Kombination beider Aspekte gestützt werden.
In vorliegenden Fall hat sich die Prüfungsabteilung nicht darauf berufen, dass der Hauptantrag verspätet eingereicht wurde; weder die verspätete Einreichung des Antrags noch andere verfahrensrechtlichen Einwände haben für die Ermessensentscheidung der Prüfungsabteilung eine Rolle gespielt. Vielmehr hat die Prüfungsabteilung den Hauptantrag allein mit der Begründung nicht in das Prüfungsverfahren zugelassen, dieser erfülle nicht die Erfordernisse der Artikel 84 und 56 EPÜ und missachte einen aus der Stellungnahme G 2/92 abgeleiteten Grundsatz. Damit waren allein materiellrechtliche Gründe ausschlaggebend.
2.6 Da die Ermessensentscheidung der Prüfungsabteilung, den Hauptantrag nicht zuzulassen, aus materiellrechtlichen Gründen und nicht aus verfahrensrechtlichen Gründen getroffen wurde, können die in der Entscheidung G 7/93 aufgestellten Grundsätze in dem vorliegenden Fall nicht zur Anwendung kommen. Zur Überprüfung steht vielmehr die Ermessensentscheidung eingeflossene materiellrechtliche Wertung (Klarheit; erfinderische Tätigkeit u.s.w.), die den Kern der Überprüfungskompetenz der Beschwerdekammern betrifft.
2.7 Diesen Gesichtspunkt hat inzwischen auch die Kammer 3.5.06 für ihre Entscheidung herangezogen, einen Hilfsantrag, der von der Prüfungsabteilung ermessensfehlerfrei nicht zugelassen wurde, und der mit der Beschwerde erneut gestellt wurde, in das Beschwerdeverfahren zuzulassen (T 820/14 vom 29. November 2016, Ziffer 11 der Entscheidungsgründe; in diesem Sinne auch: T 556/13 vom 14. Oktober 2016, Ziffer 2.1.8 der Entscheidungsgründe; und T 971/11 vom 4. März 2016 im Falle der verspäteten Vorlage von Dokumenten im Einspruchsverfahren). Die Kammer schließt sich dieser Rechtsprechung an.
2.8 Aus dem Gesagten folgt, dass die Entscheidung G 7/93 in einem Fall wie dem Vorliegenden, in dem die Prüfungsabteilung einen Antrag aus materiellrechtlichen Gründen nicht zugelassen hat, der Zulassung denselben Antrags in das Beschwerdeverfahren nicht entgegen steht. Die Kammer hat vielmehr das ihr durch Artikel 12(4) VOBK eingeräumte Ermessen vollumfänglich selbst auszuüben.
2.9 Mit Ausnahme des Umstands, dass der damals gültige Hauptantrag von der Prüfungsabteilung nicht zugelassen wurde, sind keine Gründe ersichtlich, aus denen der bereits mit der Beschwerdebegründung vorgelegte Hauptantrag nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden sollte. Soweit der Anspruch 1 des Hauptantrags in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer modifiziert wurde, geschah dies in Reaktion auf den Verlauf der mündlichen Verhandlung. Dabei haben die vorgenommenen Änderungen keine neuen und schwierigen Fragen aufgeworfen, die von der Kammer in der mündlichen Verhandlung nicht hätten behandelt werden können.
2.10 Folglich ist die Kammer in Ausübung ihres eigenen Ermessens zu dem Schluss gekommen, den Hauptantrag in der letztlich zur Entscheidung gestellten Fassung in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.

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