23 December 2016

T 0066/14 - New argument, not new ground

Key points


  • In this opposition appeal, the Board finds a first substantial procedural violation that documents filed by the opponent with the written submissions before oral proceedings (i.e. after the opposition period and hence late filed) were not admitted because they would not be "more relevant" than the documents filed within the opposition period. The question is whether late filed documents are prima facie relevant, not whether they are more relevant.
  • The second substantial procedural violation is that an argument of insufficient disclosure was not admitted as " new ground of opposition", while the argument was based on an amendment of the claim during opposition by adding a feature not present in the claims as granted. Therefore, the argument is not a new ground of opposition (3.6) but an argument under Article 101(3) EPC. 
  • During the oral proceedings, the patent proprietor invoked comparative results filed during examination. These are not part of the opposition procedure, and were thus late filed. They were discussed during the oral proceedings and the decision was based on them. However, because the opponent did not request an interruption of oral proceedings or new oral proceedings, basing the decision on these results was no violation of the right to be heard. 


EPO  T 0066/14 -  link



Entscheidungsgründe
1. Wesentliche Verfahrensmängel
Die Beschwerdeführerin macht drei wesentliche Verfahrensmängel geltend. Gemäß ihrem Vortrag
(i) sei ihr keine Gelegenheit gegeben worden, zur Relevanz der Dokumente D6 bis D11 bzw. zur erfinderischen Tätigkeit hinsichtlich der Kombination von D3 mit D8 in der mündlichen Verhandlung vorzutragen und
(ii) sei die Nichtzulassung des Einwands der mangelnden Ausführbarkeit sowie
(iii) die Berücksichtigung der im Prüfungsverfahren von den Beschwerdegegnerinnen eingereichten Vergleichsbeispiele bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör erfolgt.
2. Nichtzulassung der Dokumente D6 bis D11
2.1 Zunächst stellt sich die Frage, ob diese Dokumente tatsächlich "verspätet" im Sinne von Artikel 114(2) EPÜ vorgebracht wurden, da nur dann ihre Zulassung im Ermessen der Einspruchsabteilung stand.
2.2 Die Dokumente D6 bis D11 wurden mit Fax vom 18. Juni 2013 eingereicht. In der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung war als Zeitpunkt gemäß Regel 116(1) EPÜ der 21. Juni 2013 angegeben worden. Die Dokumente wurden somit nach Ablauf der Einspruchsfrist, jedoch vor dem in Regel 116(1) EPÜ genannten Zeitpunkt, d.h. vor dem Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eingereicht werden können, eingereicht.
Nach Ansicht der Beschwerdeführerin seien die Dokumente "fristgerecht in Bezug auf Regel 116(1) EPÜ eingereicht worden".
2.3 Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern werden Beweismittel, die vom Einsprechenden im Verfahren vor der Einspruchsabteilung erst nach Ablauf der Neunmonatsfrist nach Artikel 99(1) EPÜ vorgebracht werden, grundsätzlich als verspätet im Sinne von Artikel 114(2) EPÜ angesehen (vgl. die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA (RBK), 8. Auflage, IV.C.1.2.1, erster und dritter Absatz). Der Wortlaut von Regel 116(1) EPÜ, Satz vier, erster Halbsatz ("Nach diesem Zeitpunkt vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel brauchen nicht berücksichtigt zu werden") ist dabei nicht so zu verstehen, dass mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung eine neue Frist in Gang gesetzt würde, innerhalb der neue Beweismittel eingereicht werden könnten, welche dann nicht als "verspätet" im Sinne von Artikel 114(2) EPÜ zu werten seien (siehe T 841/08, Punkt 2.1 der Entscheidungsgründe). Vielmehr hat Regel 116(1) EPÜ lediglich den Zweck, dem Europäischen Patentamt eine verfahrensleitende Maßnahme zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung zur Verfügung zu stellen (T 798/05, Punkt 7, letzter Absatz, der Entscheidungsgründe).
2.4 In besonderen Fällen können Gründe vorliegen, die das Vorbringen von Beweismitteln seitens des Einsprechenden erst nach dem Ablauf der Neunmonatsfrist nach Artikel 99(1) EPÜ rechtfertigen, sodass diese nicht als verspätet im Sinne von Artikel 114(2) EPÜ anzusehen sind (siehe RBK, op.cit., IV.C.1.2.1 und insbesondere die dort zitierte Entscheidung T 532/95, Punkt 2.2 der Entscheidungsgründe). Insbesondere sind neue Beweismittel, die nach dem Zeitpunkt gemäß Regel 116(1) eingereicht werden, zum Verfahren zuzulassen, wenn eine Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts vorliegt (Regel 116(1) EPÜ, Satz vier, zweiter Halbsatz).
Es stellt sich somit Frage, ob im vorliegenden Fall Gründe vorlagen, die es gerechtfertigt hätten, diese Dokumente erst nach der Neunmonatsfrist nach Artikel 99(1) EPÜ einzureichen bzw. ob eine Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts vorlag, die die Einreichung der Dokumente rechtfertigen hätte können.
2.5 Mit ihrer Erwiderung auf die Einspruchsschrift reichte die Patentinhaberin keine geänderten Anträge ein. Im Anhang an die Ladung zur mündlichen Verhandlung teilte die Einspruchsabteilung den Parteien ihre vorläufige Meinung mit, wonach keiner der geltend gemachten Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstünde. Insbesondere sei der Gegenstand von Anspruch 1 neu gegenüber dem Dokument D1, weil dort das Merkmal, wonach "die Amplitude der Ultraschall-Leistung im Bereich von 5mym bis 100mym konstant geregelt wird", nicht offenbart sei.
2.6 Dem Schreiben vom 18. Juni 2013, mit dem die Dokumente D6 bis D11 eingereicht wurden und welches im Übrigen auch ein Zeugenanbot enthält, kann entnommen werden, dass die Beschwerdeführerin der Ansicht war, D1 offenbare alle Merkmale des erteilten Anspruchs 1 wenigstens implizit (siehe insbesondere Abschnitt 2.1, letzter Satz) bzw. seien diese übliche Merkmale auf dem Gebiet der Behandlung von Klärschlamm (siehe Abschnitt 2.2). Hierzu verweist sie auf die Dokumente D6, D7 und D9 bis D11. Dieses Schreiben enthält darüber hinaus einen Vortrag hinsichtlich der behaupteten fehlenden erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf eine Kombination der Dokumente D3 und D8 (Abschnitt 3).
Aus diesem Vorbringen lässt sich schließen, dass die Einsprechende sich durch die vorläufige Meinung der Einspruchsabteilung veranlasst sah, die Dokumente D6 bis D11 einzureichen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Einreichung dieser Dokumente erst nach Ablauf der Neunmonatsfrist nach Artikel 99(1) EPÜ gerechtfertigt, und damit als nicht verspätet anzusehen war. Vielmehr war das fragliche Merkmal die Amplitude der Ultraschall-Leistung betreffend bereits im erteilten Anspruch 1 vorhanden. Die Einsprechende hätte somit bereits innerhalb der Neunmonatsfrist die genannten Beweismittel einreichen bzw. diese zumindest angeben können (vgl. Regel 76(2)c) EPÜ). Auch hat die Beschwerdeführerin nicht dargetan, weshalb die genannten Dokumente erst nach Ablauf der Neunmonatsfrist eingereicht wurden (vgl. T 841/08 supra, loc.cit.). Ebensowenig lag eine Sachverhaltsänderung im Sinne von Regel 116(1), Satz vier, zweiter Halbsatz, vor, aufgrund dessen die Dokumente zum Verfahren zuzulassen gewesen wären.
2.7 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die Dokumente D6 bis D11 als verspätet vorgebrachte Beweismittel im Sinne von Artikel 114(2) EPÜ anzusehen sind und es daher im Ermessen der Einspruchsabteilung stand, diese zum Verfahren zuzulassen.
2.8 Die Kammer hat daher die Frage zu beantworten, ob im vorliegenden Fall die Einspruchsabteilung ihr Ermessen pflichtgemäß, d.h. nach Maßgabe der richtigen Kriterien, ausgeübt hat.
2.9 Ausweislich der Begründung der angefochtenen Entscheidung (siehe Punkt 5.3) kam die Einspruchsabteilung zu dem Schluss, dass "die Dokumente D6 bis D11 nicht mehr (sic) relevant oder 'aufschlussreicher' als die rechtzeitig eingereichten Entgegenhaltungen D1 bis D5" seien, weshalb sie "nach Art. 114(2) EPÜ unberücksichtigt bleiben" könnten. In dieser Passage der Begründung wird auch Bezug genommen auf die Entscheidungen T 156/84, T 71/86, T 11/88 und T 705/90. Punkt 5.2 der Begründung enthält eine kurze Zusammenfassung des Inhalts der Dokumente D6 bis D11.
Punkt 17 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung ist zu entnehmen, dass die Vorsitzende die Parteien mündlich darüber informierte, dass nach Ansicht der Einspruchsabteilung die Dokumente D6 bis D11 nicht relevanter als bereits vorliegender Stand der Technik seien. Auf Nachfrage der Vorsitzenden, welches der Dokumente alle im dann vorliegenden Anspruch 1 enthaltenen Merkmale offenbare, verwies die Beschwerdeführerin auf D1 und machte insbesondere eine implizite Offenbarung geltend. Auch die Beschwerdegegnerinnen tragen vor, dass auf die genannte Nachfrage der Vorsitzenden die Beschwerdeführerin zu D1 vortrug.
2.10 Bei ihrer Ermessensausübung hat die Einspruchsabteilung sich somit auf das Kriterium gestützt, wonach ein Dokument nur dann zugelassen werden könne, wenn es "relevanter" als die bereits im Verfahren befindlichen Dokumente sei, bzw. wenn es alle Merkmale des unabhängigen Anspruchs offenbare, d.h. neuheitsschädlich sei.
2.11 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern hat die Einspruchsabteilung die prima-facie-Relevanz der verspätet vorgebrachten Beweismittel zu prüfen (RBK, op.cit., IV.C.1.2.2a)). Für die Prüfung, ob eine Druckschrift prima facie relevant ist, ist es jedoch nicht entscheidend, ob sie von noch größerer Relevanz ist als eine früher eingereichte Druckschrift, sondern ob sie prima facie für den Ausgang des Falles entscheidend ist (T 1652/08, Punkt 3.4 der Entscheidungsgründe). Dabei ist die verspätet eingereichtet Druckschrift nicht isoliert vom Vortrag der sich auf sie stützenden Partei zu berücksichtigen. Vielmehr muss die Einspruchsabteilung bei ihrer Ermessensausübung berücksichtigen, welchen Einwand das verspätete Dokument untermauern soll.
2.12 Im vorliegenden Fall geht insbesondere aus dem Schreiben vom 18. Juni 2013, mit dem die Dokumente D6 bis D11 eingereicht wurden, hervor, dass die Beschwerdeführerin keines dieser Dokumente für sich genommen als neuheitsschädlich ansah. Es erscheint vielmehr, dass die Dokumente zum einen eine implizite Offenbarung in D1 stützen (Dokumente D6 bis D7 und D9 bis D11) bzw. einen Mangel an erfinderischer Tätigkeit begründen sollten (Dokument D8 in Verbindung mit dem bereits im Verfahren befindlichen Dokument D3).
2.13 Da die Einspruchsabteilung bei der Ausübung ihres Ermessens jedoch allein darauf abgestellt hat, ob eines der verspätet eingereichten Dokumente alle Merkmale des Anspruchs 1 offenbart, hat sie ihr Ermessen nach den falschen Kriterien und damit nicht pflichtgemäß ausgeübt.
2.14 Das Vorgehen der Einspruchsabteilung ist auch nicht von der von ihr in der angefochtenen Entscheidung zitierten Rechtsprechung gestützt. Keine der von der Einspruchsabteilung zitierten Entscheidungen legt nahe, dass die Relevanz eines verspätet vorgebrachten Dokuments darauf zur prüfen sei, ob es die Gesamtheit der Merkmale des angegriffenen unabhängigen Anspruchs offenbart. Zwar wird in T 71/86 (Punkt 3, 1. Absatz der Entscheidungsgründe) der Maßstab angewandt, wonach ein verspätet vorgebrachtes Dokument "relevanter" ("plus pertinent") als die bisher im Verfahren befindlichen Dokumente sein müsse, um zugelassen zu werden. Aber auch dieser Entscheidung ist nicht zu entnehmen, dass diese höhere Relevanz daran zu messen wäre, ob das verspätet vorgebrachte Dokument alle Merkmale des angegriffenen unabhängigen Anspruchs offenbare.
2.15 Mithin ist die Entscheidung der Einspruchsabteilung mit einem wesentlichen Verfahrensfehler behaftet.

3. Nichtzulassung des Einwands der mangelnden Ausführbarkeit
3.1 In der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung reichten die Beschwerdegegnerinnen zunächst einen ersten geänderten Hauptantrag ein (siehe Niederschrift, Punkt 3 und Anlage I). Im Vergleich zu Anspruch 1 in seiner erteilten Fassung enthält Anspruch 1 dieses Hauptantrags im Merkmal des zweiten Spiegelstrichs folgende Änderungen (Hinzufügungen unterstrichen):
"- in die Teilmenge in Abhängigkeit von der Art der zu behandelnden Zellen eine genau definierte Ultraschall-Leistung mit genau definierter hoher Intensität und Energiedichte eingetragen wird".
Die hinzugefügten Merkmale finden ihre Grundlage im ursprünglich eingereichten Anspruch 1 und waren nicht in den erteilen Ansprüchen enthalten (vgl. Punkt 2.2 der Begründung der angefochtenen Entscheidung).
Diese Merkmale finden sich auch in dem schließlich von der Einspruchsabteilung als gewährbar erachteten Anspruch 1 wieder (s. Punkt VII oben).
3.2 Hinsichtlich dieses Antrags ist der Niederschrift der mündlichen Verhandlung unter Punkt 7 Folgendes zu entnehmen:
"Der Einsprechende erhob einen Einwand unter Artikel 83 EPÜ. Die Vorsitzende erklärte, dass dieser neue Einspruchsgrund nicht mehr zulässig war, da er zu spät eingereicht wurde."
3.3 In der angefochtene Entscheidung (siehe Punkt 3 der Begründung) begründet die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung, "den Einwand unter Artikel 100(b) EPÜ" nicht zum Verfahren zuzulassen, damit, dass der Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit in der Einspruchsschrift nicht geltend gemacht worden sei. Dieser neue Einspruchsgrund sei zum ersten Mal in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung geltend gemacht worden. Da sich die Beschwerdegegnerinnen nicht angemessen auf die beabsichtigten mündlichen Ausführungen der Beschwerdeführerin hätten vorbereiten können und nicht ausreichend Gelegenheit gehabt hätten, sich zu diesem neuen Einspruchsgrund zu äußern, und damit das Verfahren nicht rasch zum Abschluss hätte gebracht werden können, übte sie ihr Ermessen aus und ließ diesen neuen Einspruchsgrund nicht zum Verfahren zu.
3.4 Die Kammer stellt hierzu zunächst fest, dass es bei der Zulassung eines neuen Einspruchsgrunds im Verfahren vor der Einspruchsabteilung grundsätzlich darauf ankommt, ob der Einspruchsgrund prima facie der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenzustehen scheint (G 10/91, Punkt 16 der Entscheidungsgründe). Die vorliegende Begründung der Einspruchsabteilung, den Einwand der mangelnden Ausführbarkeit nicht zum Verfahren zuzulassen stützt sich jedoch nicht auf die Relevanz dieses Einspruchsgrunds sondern auf verfahrensökonomische Erwägungen und darauf, dass die Beschwerdegegnerinnen auf diesen Einspruchsgrund nicht vorbereitet gewesen seien und nicht ausreichend Gelegenheit gehabt hätten, sich zu diesem neuen Einspruchsgrund zu äußern. Im Übrigen ist der Niederschrift der mündlichen Verhandlung weder zu entnehmen, dass die Beschwerdegegnerinnen der Zulassung des Einwands der mangelnden Ausführbarkeit entgegentraten, noch dass sie eingewandt hätten, auf diesen Einwand nicht vorbereitet gewesen zu sein bzw. nicht ausreichend Gelegenheit gehabt hätten, sich zu diesem zu äußern.
Die Einspruchsabteilung hat somit ihr Ermessen, den Einwand, den sie als neuen Einspruchsgrund im Sinne von Artikel 100b) gewertet hat, nicht zum Verfahren zuzulassen, nach den falschen Maßstäben und mithin nicht pflichtgemäß ausgeübt.
3.5 Was die Möglichkeit der Beschwerdegegnerinnen betrifft, sich zu einem neuen Einspruchsgrund zu äußern, so ist die Kammer der Ansicht, dass dies im Verfahren vor der Einspruchsabteilung bei der Relevanzprüfung des neu vorgetragenen Einspruchsgrunds grundsätzlich unbeachtlich ist. Sollte die Einspruchsabteilung - nach Anhörung aller Beteiligter - jedoch zu dem Schluss kommen, dass ein neuer Einspruchsgrund prima facie relevant sei und diesen in das Verfahren einführt, ist selbstverständlich der Patentinhaberin ausreichend Gelegenheit zu geben, hierzu Stellung zu nehmen. Den Umständen entsprechend mag hierzu eine Unterbrechung der mündlichen Verhandlung ausreichen, die Umstände können aber auch eine Vertagung der mündlichen Verhandlung notwendig machen. Auch den von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidungsbegründung zitierten Entscheidungen T 433/93, T 817/93 ist nicht zu entnehmen, dass ein neuer Einspruchsgrund schon deshalb nicht zugelassen werden kann, weil die Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung nicht angemessen darauf reagieren kann.
3.6 Die Kammer ist darüber hinaus der Ansicht, dass es sich bei dem geltend gemachten Einwand der mangelnden Ausführbarkeit gar nicht um einen neuen Einspruchsgrund im Sinne der Entscheidung G 10/91 handelt, auch wenn der Einspruchsgrund nach Artikel 100b) EPÜ in der Einspruchsschrift nicht geltend gemacht worden war. Dieser Einwand wurde auch nicht verspätet vorgebracht.
3.6.1 Gemäß der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer (siehe G 10/91, Punkt 19 der Entscheidungsgründe), sind "Änderungen der Ansprüche oder anderer Teile eines Patents, die im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vorgenommen werden, in vollem Umfang auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ... zu prüfen" (vgl. Artikel 101(3) EPÜ). Von diesem Grundsatz gibt es Ausnahmen. So ist z.B. das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach Artikel 82 EPÜ im Einspruchsverfahren unbeachtlich, auch wenn das Patent Änderungen erfährt (siehe G 1/91, Entscheidungsformel). Darüber hinaus können gemäß G 3/14 bei der Prüfung nach Artikel 101(3) EPÜ die Ansprüche des Patents nur auf die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ geprüft werden, sofern - und dann auch nur soweit - diese Änderung einen Verstoß gegen Artikel 84 EPÜ herbeiführt (siehe Entscheidungsformel), auch wenn Artikel 84 EPÜ kein Einspruchsgrund unter Artikel 100 EPÜ ist. Demgegenüber entspricht das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung auch einem der in Artikel 100 EPÜ abschließend aufgezählten Einspruchsgründe. Da aber ein Erfordernis, welches nicht unter einen der Einspruchsgründe fällt, unter bestimmten Umständen im Einspruchsverfahren geprüft werden kann, muss dies umso mehr für ein Erfordernis gelten, welches einem der Einspruchsgründe nach Artikel 100 EPÜ entspricht, auch wenn der entsprechende Einspruchsgrund nicht in der Einspruchsschrift geltend gemacht worden war.
Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass im Einspruchsverfahren ein Antrag, der Änderungen des Patents betrifft, welche, wie hier, im Hinzufügen von Merkmalen besteht, die nicht in den Ansprüchen in ihrer erteilten Fassung vorhanden waren, grundsätzlich einem Einwand unter Artikel 83 EPÜ (i.V.m. Artikel 101(3) EPÜ) zugänglich ist, auch wenn der Einspruchsgrund nach Artikel 100b) EPÜ im Verfahren zuvor nicht geltend gemacht worden ist.
3.6.2 Der Einwand der Beschwerdeführerin war auf einen solchen Antrag gerichtet, da er sich auf Merkmale bezog, die aus dem ursprünglich eingereichten Anspruch 1 stammen, aber nicht in den erteilten Ansprüchen vorhanden waren (vgl. Punkt 2 der Beschwerdebegründung).
3.6.3 Darüber hinaus wurde dieser Einwand auch nicht verspätet erhoben. Die Änderungen, auf die dieser Einwand abzielte, wurden nämlich erst mit Schreiben vom 10. Juli 2013 beantragt, d.h. ca. zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung. Der Einwand der mangelnden Ausführbarkeit wurde daher zum frühest möglichen Zeitpunkt erhoben, nämlich in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung.
3.6.4 Aus den genannten Gründen hätte die Einspruchsabteilung den Einwand der mangelnden Ausführbarkeit prüfen müssen.
3.6.5 Im Übrigen bemerkt die Kammer, dass die Einspruchsabteilung einen Einwand unter Artikel 84 EPÜ sehr wohl zugelassen und geprüft hat (siehe Punkt 8 der Niederschrift, vgl. auch Punkt 4 der Entscheidungsbegründung). Aus den oben genannten Gründen hätte die Einspruchsabteilung jedoch auch den Einwand der mangelnden Ausführbarkeit prüfen müssen.
3.7 Mithin ist die Entscheidung der Einspruchsabteilung mit einem weiteren wesentlichen Verfahrensfehler behaftet.
4. Berücksichtigung von im Prüfungsverfahren eingereichten Vergleichsbeispielen
4.1 Die angefochtene Entscheidung stützt sich in einem wesentlichen Punkt, nämlich bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit, auf Vergleichsversuche, die im Prüfungsverfahren mit Schreiben vom 17. Februar 2010 und 28. Juni 2010, letzteres empfangen am 29. Juni 2010, von den nunmehrigen Beschwerdeführerinnen eingereicht worden waren (siehe Punkt 7.3, vierter Absatz der Entscheidungsbegründung und Punkt 21 der Niederschrift der mündlichen Verhandlung).
Wie dem Vortrag der Beschwerdeführerin und der Niederschrift der mündlichen Verhandlung zu entnehmen ist (vgl. Punkt 21), wurden diese Vergleichsversuche von der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführt.
4.2 Das Einspruchsverfahren ist keine Fortführung des Prüfungsverfahrens, weshalb Beweismittel, die im Prüfungsverfahren eingereicht wurden, grundsätzlich nicht automatisch als im Verfahren vor der Einspruchsabteilung eingeführt anzusehen sind (siehe RBK, op.cit., IV.C.1.1.5). Dies gilt auch für im Prüfungsverfahren eingereichte Vergleichsversuche (siehe T 111/04, Punkt 1.2 der Entscheidungsgründe). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz wird in der Rechtsprechung lediglich bei einem Dokument gemacht, das in der Patentschrift selbst als nächstkommender Stand der Technik zitiert und gewürdigt und von dem ausgehend die in der Beschreibung dargelegte technische Aufgabe formuliert wurde (RBK, loc.cit.).
Es trifft zwar zu, wie dies von der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung angeführt wird, dass das Deckblatt der Patentschrift einen Hinweis darauf enthält, dass "die Akte [...] technische Angaben [enthält], die nach dem Eingang der Anmeldung eingereicht wurden und die nicht in dieser Patentschrift enthalten sind". Nach Ansicht der Kammer rechtfertigt dieser allgemeine Hinweis, in dem weder die Natur der technischen Angaben noch der Zeitpunkt ihrer Einreichung angegeben werden, jedoch nicht, von dem genannten Grundsatz abzuweichen, und diese technischen Angaben als im Einspruchsverfahren befindlich anzusehen. Zwar mag die Tatsache, dass Beweismittel in Form von technischen Angaben, die im Prüfungsverfahren eingereicht worden waren, welches zur Erteilung des Streitpatents geführt hat, ein Indiz für ihre Prima-facie-Relevanz sein, dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Beweismittel automatisch als im das Streitpatent betreffenden Einspruchsverfahren eingeführt anzusehen sind.
4.3 Erscheint es einer Einspruchsabteilung gemäß Artikel 114(1) EPÜ erforderlich, neue Beweismittel, die erst in der mündlichen Verhandlung vorgelegt wurden, zu berücksichtigen, so muss sie, wie in Artikel 113(1) EPÜ gefordert, den anderen Beteiligten zunächst Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu geben, bevor sie eine auf solche Beweismittel gestützte Entscheidung erlässt (RBK, op.cit., III.B.2.6.1, erster Absatz). In solchen Fällen sollte sie den Parteien, ggf. nach Einräumung einer Verhandlungsunterbrechung, allenfalls auf Antrag, durch Ansetzung einer neuen Verhandlung, Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Geht weder aus der Niederschrift der mündlichen Verhandlung noch aus der angefochtenen Entscheidung ein Antrag auf eine Verhandlungspause noch auf Ansetzung einer neuen Verhandlung hervor und lässt sich die betroffene Partei auf die Besprechung der neuen Beweismittel ein, so liegt in der Regel keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor (T 484/89, Punkt 2.1.3 der Entscheidungsgründe).
4.4 Die angefochtene Entscheidung, stützt sich auf die genannten Vergleichsversuche (siehe Punkt 7.3., vierter Absatz der Entscheidungsgründe). Der Niederschrift der mündlichen Verhandlung ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführerin Kopien der Versuche ausgehändigt wurden und dass während der Diskussion der erfinderischen Tätigkeit auf diese Bezug genommen worden ist (siehe Punkt 21 der Niederschrift). Der Niederschrift ist weder ein Antrag der Beschwerdeführerin auf Verhandlungsunterbrechung noch auf Ansetzung einer neuen Verhandlung zu entnehmen. Auch die unter Punkt 23 der Niederschrift protokollierte Rüge hinsichtlich der behaupteten Verletzungen des rechtlichen Gehörs enthält nichts zu den fraglichen Vergleichsversuchen sondern betrifft die Nichtzulassung der Dokumente D6 bis D11 und des Einwandes der mangelnden Ausführbarkeit.
Aus den genannten Gründen kann die Beschwerdekammer keine Verletzung des rechtlichen Gehörs darin erkennen, dass die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung auf die im Prüfungsverfahren eingereichten Vergleichsversuche gestützt hat.

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