27 July 2020

T 2884/18 - Required level of substantiation

Key points

  • The appeal of the opponent is inadmissible due to lack of substantiation of the Statement of grounds under Rule 99(2) EPC. The Statement of grounds was signed by a professional representative. 
  • The opponent asserts that public prior use "  BMW E87" was proven, but does not address the conclusion of the OD that claim 1 was inventive over that prior use in view of the other cited documents.
  • There is a further prior use "BMW F25". “Die Beschwerdeführerin [opponent] versäumt es nämlich, unter Punkt 4 der Beschwerdebegründung in Bezug auf die angebliche offenkundige Vorbenutzung BMW F25 im einzelnen zu zeigen, wo jedes der Merkmale von Anspruch 1 in der Zeichnung der Anlagen 2 und 25 offenbart sei, sondern bestreitet insoweit nur mit einem pauschalen Verweis auf diese Zeichnungen die Neuheit des gesamten Gegenstands von Anspruch 1.”
  • According to the Board, it is not enough to merely argue that public prior use took place, the opponent must also substantiate how it anticipates the claim, even if the OD had only decided that in their view it was not proven that the public prior use took place. 
  • “Um einen Mangel an Neuheit zu begründen, ist es i.d.R. notwendig, sich mit den einzelnen Merkmalen eines Anspruchs auseinanderzusetzen. Das bedeutet nicht, dass man sich immer mit allen einzelnen Anspruchsmerkmalen detailliert auseinandersetzen muss: insbesondere für Merkmale, die im Vorverfahren nie bestritten wurden, oder deren Verwirklichung im Stand der Technik eine reine Selbstverständlichkeit ist, kann eine detaillierte Begründung entfallen. Die Begründung muss jedoch ausreichen, um objektiv erkennen zu können, aus welchen Gründen alle beanspruchten Merkmale im Stand der Technik verwirklicht sein sollen. 
  • Wie unten noch in Detail erläutert wird, ist im vorliegenden Fall der pauschale Verweis auf die Zeichnungen in der Beschwerdebegründung nicht ausreichend, um die diesbezügliche Argumentation der Beschwerdeführerin nachvollziehen zu können.”
  • By analogy, if the OD decides to not admit an auxiliary request, the patentee should probably both specifically give reasons why the OD's decision on admissibility is wrong, and why the claims of the request are allowable.



EPO Headnote

Ein vollständiger Sachvortrag, wie ihn Artikel 108 EPÜ und Artikel 12 VOBK seit jeher verlangen, erfordert bei kumulativ aufeinander aufbauenden Argumentationslinien die Darlegung sämtlicher Tatsachen, die erst gemeinsam das behauptete rechtliche Ergebnis tragen (hier: Offenkundigkeit der Vorbenutzung und neuheitsschädliche Vorwegnahme aller Merkmale der Erfindung durch diese bei Beschwerde gegen die Einstufung einer Erfindung als neu im Sinne von Artikel 54 EPÜ).

Erst dann ist dargelegt, dass die Entscheidung aufgehoben werden sollte, vgl. T 922/05, Gründe Nr. 3 und 4, für den spiegelbildlichen Fall einer Beschwerde gegen eine Entscheidung, die mehrere alternative Gründe für die fehlende Patentfähigkeit einer Erfindung aufzählt.
Wird von mehreren kumulativ zur Änderung der Entscheidung darzulegenden Tatsachen nur eine ausreichend substantiiert, ist die Beschwerde unzulässig.

EPO T 2884/18 - link



Entscheidungsgründe


1. Die Beschwerde wird als unzulässig verworfen - Regel 101(1), Artikel 108, Satz 3 und Regel 99(2) EPÜ.

2. Nach Artikel 108, Satz 3 und Regel 99(2) EPÜ hat die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung darzulegen, aus welchen Gründen die angefochtene Entscheidung aufzuheben oder in welchem Umfang sie abzuändern ist und auf welche Tatsachen und Beweismittel sie ihre Beschwerde stützt.


Gemäß Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 8. Auflage (Kapitel IV.E.2.6.3.a) "muss die Kammer aus der Beschwerdebegründung ohne eigene Ermittlungen unmittelbar ersehen können, warum die Entscheidung falsch sein soll und auf welche Tatsachen der Beschwerdeführer seine Argumente stützt."

3. Der Inhalt der 6-seitigen Beschwerdebegründung der Beschwerdeführerin lautet wie folgt:

3.1 Unter Punkt 1 ihrer Beschwerdebegründung listet die Einsprechende alle mit der Beschwerdebegründung eingereichte Anlagen 16-39 auf: Patentschriften (Anlagen 16-21), weitere Beweismittel zur Öffentlichkeit der Vorbenutzung des Dichtungsprofils in BMWs des Typs F25 (Anlagen 22-33), ein weiteres Beweismittel zur Öffentlichkeit der Vorbenutzung des Dichtungsprofils in BMWs des Typs E87 (Anlage 34) und Zeichnungen von Anlagen mit höherer Auflösung, die schon im Einspruchsverfahren eingereicht worden waren (Anlagen 35-39).

3.2 Unter Punkt 2 beanstandet die Beschwerdeführerin die Entscheidung der Einspruchsabteilung, wonach die Vorbenutzung des Dichtungsprofils in den BMWs des Typs F25 nicht ausreichend bewiesen sei; sie habe deshalb Anlagen 22 bis 33 eingereicht. Nach Erläuterung der verschiedenen Beweismittel fasst die Einsprechende zusammen, dass damit ausreichend bewiesen sei, dass das betreffende Dichtungsprofil der Firma SaarGummi gemäß Anlage 2 in BMWs des Typs F25(X3) ab dem Jahr 2010 eingebaut und mit diesen öffentlich vertrieben wurde.

Damit setzt sich die Beschwerdebegründung mit den Entscheidungsgründen auf Seite 6-8, Punkt 16.2 "Kein ausreichender Beweis für die behauptete offenkundige Vorbenutzung "BMW TYP F25 (X3) mit Dichtungsprofilen der Firma Saargummi" der Einspruchsabteilung auseinander. Die Beschwerde bezieht sich daher unmittelbar auf die angefochtene Entscheidung.

3.3 Unter Punkt 3 gibt die Einsprechende den Wortlaut des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 wieder.

3.4 Und unter Punkt 4 mit dem Titel "Mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit" schreibt die Einsprechende letztlich folgendes:

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

4. Die Beschwerdeführerin deutet somit zwei Angriffslinien an, mit denen sie die Richtigkeit der Entscheidung und den Bestand des Patents in Frage stellen will: Fehlende Neuheit gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung BMW F25 und fehlender erfinderischer Schritt gegenüber einer Kombination der Vorbenutzung BMW E87 und den Schriften Anlage 16 - Anlage 21. Beide werden jedoch nicht im gebotenen Umfang substantiiert.

5. Es ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin, die nur die letzten drei oben zitierten Zeilen auf die zweite Angriffslinie verwendet, keinen Grund angibt, warum im Hinblick auf die offenkundige Vorbenutzung durch die Fensterdichtung des BMW E87 in Kombination mit den Patentschriften 16-21 die Schlussfolgerung der Einspruchsabteilung nicht korrekt sei, wonach der Gegenstand des Anspruchs 1 erfinderisch sei.

6. Aber auch im Hinblick auf die erste Angriffslinie fehlt es an der Darlegung der einzelnen Punkte, die für die Schlussfolgerung, das Patent sei neuheitsschädlich getroffen und daher nicht bestandsfähig, notwendig wäre. Die Beschwerdeführerin versäumt es nämlich, unter Punkt 4 der Beschwerdebegründung in Bezug auf die angebliche offenkundige Vorbenutzung BMW F25 im einzelnen zu zeigen, wo jedes der Merkmale von Anspruch 1 in der Zeichnung der Anlagen 2 und 25 offenbart sei, sondern bestreitet insoweit nur mit einem pauschalen Verweis auf diese Zeichnungen die Neuheit des gesamten Gegenstands von Anspruch 1.

7. Es bleibt somit der Kammer und dem am Beschwerdeverfahren Beteiligten überlassen, selbst Vermutungen anzustellen, wo diese Merkmale in der offenkundigen Vorbenutzung BMW F25 verwirklicht sein könnten. Um einen Mangel an Neuheit zu begründen, ist es i.d.R. notwendig, sich mit den einzelnen Merkmalen eines Anspruchs auseinanderzusetzen. Das bedeutet nicht, dass man sich immer mit allen einzelnen Anspruchsmerkmalen detailliert auseinandersetzen muss: insbesondere für Merkmale, die im Vorverfahren nie bestritten wurden, oder deren Verwirklichung im Stand der Technik eine reine Selbstverständlichkeit ist, kann eine detaillierte Begründung entfallen. Die Begründung muss jedoch ausreichen, um objektiv erkennen zu können, aus welchen Gründen alle beanspruchten Merkmale im Stand der Technik verwirklicht sein sollen. Wie unten noch in Detail erläutert wird, ist im vorliegenden Fall der pauschale Verweis auf die Zeichnungen in der Beschwerdebegründung nicht ausreichend, um die diesbezügliche Argumentation der Beschwerdeführerin nachvollziehen zu können.

8. Daher ist es nicht ausreichend, dass die Beschwerdebegründung sich, wie oben dargelegt (Punkt 3.2), im Wesentlichen nur mit der Feststellung der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung, wonach die behauptete offenkundige Vorbenutzung BMW F25 nicht ausreichend bewiesen ist, auseinandersetzt. Würde die Kammer sich insoweit der Argumentation der Beschwerdeführerin anschließen, könnte die Kammer lediglich feststellen, dass die offenkundige Vorbenutzung zum Stand der Technik gehört. Es wäre aber noch nicht belegt, dass die Vorbenutzung dabei den Gegenstand der Erfindung auch neuheitsschädlich vorwegnimmt.

9. Ein vollständiger Sachvortrag, wie ihn Artikel 108 EPÜ und Artikel 12 VOBK seit jeher verlangen (Artikel 12(2) VOBK 2007, nun Artikel 12(3) VOBK 2020), erfordert bei kumulativ aufeinander aufbauenden Argumentationslinien die Darlegung sämtlicher Tatsachen, die erst gemeinsam das behauptete rechtliche Ergebnis tragen. Es kann insoweit spiegelbildlich nichts anderes gelten als beim Vorgehen gegen eine Entscheidung, die mehrere alternative Gründe aufzählt, warum ein Patent nicht erteilbar bzw. bestandsfähig ist. Hier ist es in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern anerkannt, dass eine Beschwerdeschrift nur ausreichend substantiiert ist, wenn sie sich mit allen Gründen, die der Patentfähigkeit entgegenstehen, befasst. Erst dann ist dargelegt, dass die Entscheidung aufgehoben werden sollte, vgl. etwa T 922/05, Gründe Nr. 3 und 4. Gleiches muss umgekehrt gelten, wenn mehrere Gründe nur kumulativ die Patentfähigkeit eines aufrecht erhaltenen Patents in Frage stellen, wie hier Zugehörigkeit einer Vorbenutzung zum Stand der Technik und Vorwegnahme der Erfindung durch die Vorbenutzung.

10. Daher hätte es der Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall auch oblegen anzugeben, aus welchen Gründen die Feststellung, dass der BMW F25 Stand der Technik sei, zum Ergebnis führen würde, dass die Aufrechterhaltung des Streitpatents durch die Einspruchsabteilung nicht mehr gerechtfertigt wäre, d.h. warum diese behauptete Vorbenutzung neuheitsschädlich wäre.

11. Zur Frage der Neuheit gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung BMW F25 hat die Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung angegeben (siehe Punkt 3.4 oben), dass das in den Figuren 2 und 3 des Streitpatents gezeigte Dichtungsprofil in den maßgeblichen Merkmalen identisch ausgeprägt sei, wie das in den Zeichnungen der Anlagen 2 und 25 gezeigte des BMW F25. Nach Ablauf der Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung präzisierte sie, dass die Zeichnungen der Anlagen 2 und 25 somit offensichtlich alle strukturellen und funktionellen Merkmale des Anspruchs 1 offenbaren würden. Die funktionellen Merkmale seien die Merkmale d und f. Diese würden sich jedoch auf die Fensterscheibe beziehen, welche in Anspruch 1 in keiner Weise definiert sei und daher der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht weiter einschränken könnte. Darüber hinaus seien die Materialeigenschaften des Dichtungsprofils nicht beansprucht und selbst wenn diese Materialeigenschaften beachtlich wären, ergebe sich aus den Anlagen 24 und 25 unmittelbar die Ausgestaltung der hier maßgeblichen Komponenten des Dichtungsprofils aus einem elastischen Gummimaterial. Zum Vorwurf der Unvollständigkeit der Beschwerdebegründung führte sie an, dass ihre knappe Begründung auf der Grundlage der Zeichnungen angemessener sei, als lange Erklärungen, die nichts weiter hinzufügen würden, sondern die Begründung nur unnötig verlängern würden.

12. Die Argumentation der Beschwerdeführerin bestätigt, dass es notwendig gewesen wäre, bereits in der Beschwerdebegründung zumindest hinsichtlich der Merkmale d und f, die unbestritten funktionelle Angaben enthalten, Erläuterungen zu geben, um den Einwand der mangelnden Neuheit nachvollziehen zu können. Entweder hätte die Beschwerdeführerin erklären müssen, warum die funktionelle Angaben gemäß diesen Merkmalen keine Einschränkungen des beanspruchten Gegenstand bewirken sollen. Oder sie hätte angeben müssen, warum die funktionellen Merkmale auch bei der offenkundigen Vorbenutzung verwirklicht seien. Für beide Merkmale d und f muss nämlich erkannt werden, wie das Dichtungsprofil sich verformen wird, wenn eine wie auch immer ausgestaltete Fensterscheibe in der geschlossenen Position ist. Die Zeichnungen in den Anlagen 2 und 25 zeigen jedoch in keiner Weise, wie sich das Dichtungsprofil und hier insbesondere die Bodenlippe in der geschlossenen Position der Fensterscheibe verformt und welche seitlich angreifenden Kräfte dann ggfs. aufgenommen werden. Obwohl es aus den Anlagen 2 und 25 implizit ist, dass das Dichtungsprofil aus flexiblem Material besteht, kann sein Flexibilitätsgrad in keiner Weise aus den Zeichnungen in den Anlagen 2 und 25 abgeleitet werden. Daher können keine Aussagen darüber getroffen werden, ob die Bodenlippe die Stirnfläche der Fensterscheibe in der Schließstellung formschlüssig umgreifen wird und ob die Bodenlippe die Fensterscheibe am Bewegen in eine Richtung senkrecht zu einer Tangentialebene der Seitenfläche hindern wird.

Es ist daher im vorliegenden Fall nicht möglich, die Merkmale d und f in den Zeichnungen der Anlagen 2 und 25 ohne weitere Erläuterungen zu identifizieren.

13. Darüber hinaus ist die Beschwerdeführerin der Auffassung, dass die Beschwerdebegründung im Lichte ihre Vorgeschichte zu prüfen ist, also im Lichte des Einspruchsverfahrens.

14. Es ist seit langem anerkannt, dass das Beschwerdeverfahren keine bloße Fortsetzung des Einspruchsverfahrens, sondern ein eigenes Verfahren ist. Dementsprechend verlangt Artikel 12(3) VOBK 2020: "Die Beschwerdebegründung und die Erwiderung müssen das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten. Dementsprechend müssen sie deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen; sie sollen ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel im Einzelnen anführen".

Es ist zuerst zu betonen, dass in der Beschwerdebegründung keine (spezifische) Bezugnahme auf Eingaben im Einspruchsverfahren gemacht worden sind.

Aber selbst wenn man sich auf das Einspruchsverfahren stützen wollte, würde man erkennen, dass die Merkmale d und f auch dort bereits umstritten waren (Siehe Seiten 9-12 des Schreibens der Patentinhaberin vom 14. November 2017 im Einspruchsverfahren und Punkt 12, auf Seiten 5-7 der Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 10. Januar 2018 im Einspruchsverfahren - dort wird unter Punkt 12.4 am Ende auch das Vorliegen eines Nockenabschnitts gemäß Merkmal f als noch zu beweisen bezeichnet). Es konnte also nicht davon ausgegangen werden, dass angesichts einer früheren Einigkeit zwischen den Parteien weiterer Vortrag auch im Beschwerdeverfahren nicht erforderlich sein würde. Vielmehr musste die Beschwerdeführerin auch vor dem Hintergrund des Vortrags der Parteien und der Einschätzung der Einspruchsabteilung im Einspruchsverfahren davon ausgehen, dass ein Beschwerdevortrag, der sich auf eine neuheitsschädliche Vorwegnahme der Erfindung durch die Vorbenutzung BMW F25 stützt, auch eine Begründung zur Offenbarung der einzelnen Merkmale des Patentanspruchs in den Anlagen 2 und 25 erforderte.

15. Zusammenfassend ist die Begründung für die mangelnde Neuheit und die mangelnde erfinderische Tätigkeit von Anspruch 1 des Hauptantrags II in der Beschwerdebegründung unzureichend. Die Beschwerdebegründung ist somit nicht schlüssig und die Kammer kann nicht ohne eigene Ermittlungen unmittelbar ersehen, warum die Entscheidung falsch sein soll.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird als unzulässig verworfen.

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