21 December 2015

T 1410/14 - Prior use visible for a second

T 1410/14
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EPO Headnote
  1. Merkmale eines nur für einen kurzen Zeitraum sichtbaren Gegenstands sind nur dann der Öffentlichkeit zugänglich geworden, wenn zweifelsfrei nachgewiesen ist, dass für den Fachmann in diesem kurzen Zeitraum die Merkmale eindeutig und unmittelbar zu erkennen waren (Gründe, 2.1-2.5).

Key points
  • The case concerns public prior use, because a tram comprising the the claimed invention had been tested in the city of Lodz. The feature at issue (a specific type of joint between the tramcars / coach bodies) could only have been seen from a pedestrian bridge that crosses the rails. The tram had passed the bridge 13 times. The patentee argues that the tram had moved with such speed that no one could have plausibly have seen how the joints between tram cars worked (in particular, that the joints have a pivot bearing having a bracket which is held on the coach body displaceably in the transverse direction). 
  • In view of the headnote above, the Board considers the public prior use to be not novelty destroying, because it had not been proven without doubt that the claimed features were directly and unambiguously recognizable for the skilled person in such short time period.

Sachverhalt und Anträge
V. Anspruch 1 wie erteilt lautet wie folgt (Einfügung der Nummerierung der Merkmale in eckigen Klammern durch die Kammer):
Großräumiges Fahrzeug zur Personenbeförderung, insbesondere Schienenfahrzeug, das durch Gelenkverbindungen gekoppelte Wagenkästen (1,2) aufweist [Ml.1], [...]
dadurch gekennzeichnet, dass die Schwenklagerung eine Konsole (3) aufweist, die am Wagenkasten (1) in Fahrzeugquerrichtung (Q) verschiebbar gehalten ist [M1.5].


Entscheidungsgründe
[...]
2. Die behauptete offenkundigen Vorbenutzung, deren Gegenstand insbesondere in den Dokumenten D4 und D15 dargestellt ist (D4 und D15 sind Bilder eines Koppelgelenks), ist kein Stand der Technik gemäß Artikel 54(2) EPÜ.
Von den Parteien wurde nicht bestritten, dass am 26. April 2004 ein Fahrzeug (1209, "City Runner") mit den Merkmalen des strittigen Anspruchs 1 im öffentlichen Verkehrsraum der Stadt Lodz (PL) gefahren ist. Weiterhin ist unstrittig, dass das streit­gegen­ständliche Koppelgelenk lediglich von oben, nämlich z.B. von der Fußgängerbrücke, die wie in D13 und D14 dargestellt über die Fahrtrasse führt, einsehbar gewesen ist.
Die Kammer sieht es nicht als bewiesen an, dass ein Fachmann die Möglichkeit hatte, während dieser Vorbenutzungs­handlung alle Merkmale der Erfindung zu erkennen. Insbesondere hat die Beschwerdeführerin nicht ausreichend dargetan, dass für den Fachmann das Merkmal 1.5, wonach eine zur Schwenklagerung gehörende Konsole am Wagenkasten verschiebbar gehalten werde, bei den Testfahrten in Lodz erkennbar gewesen war.
Die Gründe dafür sind wie folgt:
2.1 Zunächst ist festzustellen, dass das Merkmal 1.5, wonach eine zur Schwenklagerung gehörende Konsole am Wagenkasten verschiebbar gehalten werde, auch für einen Fachmann nur dann erkennbar ist, wenn sich die Konsole in der Gummilagerung erkennbar bewegt. Dieser Punkt ist ebenfalls unstrittig.
Aus Sicht der Kammer sind daher im Wesentlichen zwei Aspekte zu prüfen:
- Hat an der Stelle der Gleistrasse, an der eine Person das Gelenk von oben hätte einsehen können, eine Wankbewegung stattgefunden, die eine signifikante Bewegung der Konsole ausgelöst hat?
- Hat eine beobachtende Person überhaupt lange genug Zeit gehabt, das Gelenk zu beobachten, um diese Bewegung der Konsole in Fahrzeugquerrichtung dann zu erkennen?
2.2 Die Beschwerdeführerin hat vorgetragen, dass Wankbewegungen der Wagenkästen zu Bewegungen in der Schwenk­lagerung der Konsole im Bereich von bis zu insgesamt 4 bis 5 Zentimeter (+/- 2 bis 2,5 cm) führten. Die Kammer folgt ihr darin, dass eine derartige Verschiebung so groß ist, dass sie von einer Person, ggf. mit Hilfe von Foto- oder Videoaufnahmen fraglos aus einer Entfernung von 5 Metern erkannt werden kann.
2.3 Die Kammer hält es aber für nicht ausreichend dargelegt, dass der Fachmann ausreichend Zeit gehabt hat, die Verschiebebewegung des Gelenkes zu erfassen, die nötig ist, um das Merkmal 1.5 in seiner Bedeutung zu erkennen. So ist vor allem offengeblieben, wie lange eine auf der Fußgängerbrücke stehende Person die Gelegenheit gehabt hätte, die Verschiebung der gelagerten Konsole zu beobachten.


Dazu ist vor allem nicht zweifelsfrei bewiesen worden, dass das streitgegen­ständliche Gelenk nicht nur in dem kurzen Moment einseh­bar gewesen ist, in dem es sich direkt unter der Brücke befunden hat, also dass eine auf der Brücke stehende Person es nicht nur bei einem im Wesentlichen senkrecht nach unten gerichteten Blick hat erkennen können.
Die Beschwerdeführerin hat angegeben, dass das Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von 20 bis 40 Stunden­kilometern unterwegs gewesen sei; dies entspricht einer Geschwindigkeit von etwa 5,5 bis 11 Meter pro Sekunde, so dass der Zeitraum zur Beobachtung aus einer im Wesentlichen senkrechten Perspektive auch bei nur 20 km/h im Bereich von weniger als eine Sekunde liegt.
2.4 Die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Frage, ob mit Hilfe von Foto- oder Videoaufnahmen die Merkmale des streitgegenständlichen Gelenks auch in dem kurzem Zeitraum hätten erkannt werden können, kann dahingestellt bleiben, da es weiterhin nicht bewiesen worden ist, dass in diesem kurzen Zeitraum sich die Konsole in der Gummilagerung signifikant bewegt hat.
Zu diesem Zweck hätten genau in diesem Zeitraum Wankbewegungen der Wagenkästen stattfinden müssen, derart, dass sich die auf demselben Drehgestell gehaltenen Wagenkästen zueinander verdrehen und sich damit die erfindungsgemäße Konsole in ihrem Gummilager verschiebt. Auch wenn man die Behauptung der Beschwerde­führerin als wahr unterstellt, es handele sich im Bereich vor und unterhalb der Brücke um einen Fahrweg mit einer Kurve, der sich in besonders schlechtem Zustand befunden habe, und es hätten gerade in diesem Bereich Wankbewegungen stattgefunden (wie den Abb. 16 und 17 der D12 zu entnehmen sei), kann nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass justament zu dem Zeitpunkt, in dem das betreffende Drehgestell unter der Brücke durchfährt, eine Wankbewegung ausgelöst wurde, die ein Verschieben der Konsole hätte erkennen lassen. Denn auch wenn eine Wankbewegung stattgefunden hätte, ist es fraglich, ob die Wankbewegung ein derart starkes Verschieben der Konsole hervorgerufen hätte, dass dieses vom Fachmann auch als solches unmittelbar und eindeutig zu identifizieren gewesen wäre, und ob die Verschiebungen insbesondere eindeutig von anderen Bewegungen von Teilen (z.B. verursacht durch Vibrationen und Deformationen) des sich in Bewegung befindlichen Fahrzeuges zu trennen war.
2.5 In diesem Zusammenhang spielt es auch keine Rolle, dass der Fahrzeugzug die Brücke insgesamt 13 mal passiert hat und der Fahrzeugzug mit vier erfindungsgemäßen Schwenk­lagern ausgestattet war, da jede dieser Passagen eines Drehgestells dieselbe Beobachtungs­situation hervorruft: da für die einsehbare Gleisstelle keine Auslösung einer Wankbewegung nachgewiesen wurde, die zu einer ausreichend deutlichen Verschiebung der Konsole gerade bei der Durchfahrt unter der Brücke geführt hat, ist die Offenbarung des Merkmals 1.5 nicht bewiesen.
Auch eine erneute Vernehmung des Zeugen, wie von der Beschwerdeführerin vorgeschlagen, würde diesen Punkt nicht weiter aufklären können. Der Zeuge hat angegeben, für den Einbau des strittigen Schwenklagers zuständig und vor Ort gewesen zu sein; er hat aber bereits bestätigt, nicht an den Versuchsfahrten teilgenommen zu haben. Insofern kann er zu der Frage, ob es direkt unter der Fußgängerbrücke zu Wankeffekten und dadurch bedingten signifikanten Verschiebungen der Konsole gekommen ist, keine Aussage machen.

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