4 December 2015

T 0451/11 - Binding starting point

EPO T 0451/11

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Key points
  • For inventive step, the choice of the starting point has a binding effect:
    "Nach ständiger Rechtsprechung, siehe dazu RdBK, I.D.3.4.3 und die darin zitierten Entscheidungen, ist der Fachmann zwar in der Wahl eines Ausgangpunktes völlig frei, später ist er aber an diese Wahl gebunden. Durch eine bewusste, d. h. in Kenntnis der Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Gattungen getroffene Auswahl legt er nicht nur den als Ausgangspunkt dienenden Gegenstand fest, sondern gibt auch den Rahmen der Weiterentwicklung vor, nämlich eine Weiterentwicklung innerhalb dieser Gattung. Eine Änderung der bewusst gewählten Gattung zu einer anderen, bereits vorher bekannten, aber nicht gewählten ist während der Weiterentwicklung unwahrscheinlich und im Normalfall nicht naheliegend." 
  • The Board indicates that also for Article 123 EPC, the claims should be interpreted in a way which makes sense, regarding the technology, and taking into account the complete disclosure of the patent.
    " Bei den Einwänden unter Artikel 83, 84 und 123 EPÜ kommt der Auslegung des Anspruchswortlauts zentrale Bedeutung zu. Die Auslegung erfolgt nach den aus der Rechtsprechung bekannten Grundsätzen. So legt der Fachmann, der bemüht ist, die beanspruchte Erfindung und ihren Beitrag technisch zu verstehen, einen Anspruch auf eine technisch sinnvolle Weise und unter Berücksichtigung der gesamten Offenbarung des Patentes aus" 
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Hintergrund
Das Patent betrifft eine Heuwerbungsmaschine, insbesondere zum Schwaden von Halmgut, mit umlaufend angetriebenen Kreiselrechen, die in Arbeitsstellung V-förmig in Fahrtrichtung ausgerichtet, und daraus über Ausleger in eine Transportstellung verschwenkbar sind. Um die Kreiselrechen von der Fahrerkabine aus leichter visuell zu kontrollieren, siehe Absatz [0003] der Patentschrift, sieht die Erfindung nach dem Anspruch 1 wie aufrechterhalten vor, dass der zentrale Zugbalken 8, der die Ausleger 10,11 mit Kreiselrechen trägt (Fig.1) längenveränderlich ist und zwar dermaßen, dass in der Arbeitsstellung die beiden vorderen Kreiselrechen an den V-Enden "in etwa bis in einen Bereich seitlich neben der Fahrerkabine" bewegbar sind.
3. Artikel 83,84,123 EPÜ
3.1 Diese Einwände betreffen alle dem gegenüber der erteilten Fassung in Anspruch 1 aufgenommen Wortlaut "in etwa bis in einen Bereich seitlich neben der Fahrerkabine". Da sie erst mit der Beschwerdebegründung (Artikel 83, 123) bzw. in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer (Artikel 84) erhoben wurden, hat die Beschwerdegegnerin ihre Zulässigkeit unter Artikel 12(2) bzw. 13(3) VOBK in Frage gestellt. Diese Frage kann aber unbeantwortet bleiben, weil keiner dieser Einwände zielführend ist.
3.2 Bei den Einwänden unter Artikel 83, 84 und 123 EPÜ kommt der Auslegung des Anspruchswortlauts zentrale Bedeutung zu. Die Auslegung erfolgt nach den aus der Rechtsprechung bekannten Grundsätzen. So legt der Fachmann, der bemüht ist, die beanspruchte Erfindung und ihren Beitrag technisch zu verstehen, einen Anspruch auf eine technisch sinnvolle Weise und unter Berücksichtigung der gesamten Offenbarung des Patentes aus (siehe dazu die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 7. Auflage, 2013 (RdBK), II.A.6.1). Dazu gibt er den verwendeten Begriffe ihre übliche Bedeutung, es sei denn, die Beschreibung weist ihnen einen anderen, besonderen Sinn zu (RdBK, II.A.6.3.3).


3.3 Der Anspruch 1 wie aufrechterhalten sieht vor, dass die beiden vorderen Kreiselrechen, die translatorisch beweglich über die Ausleger an einem längenveränderlichen Zugbalken abstützbar sind, "in etwa bis in einen Bereich seitlich neben der Fahrerkabine ... bewegbar sind". "In etwa" ist hier im normalen Sinn als "ungefähr" (siehe z.B. die Definition im Duden), "seitlich neben" (wiederum nach dem Duden) als auch "auf der Seite (seitlich, Adverb) und unmittelbar an der Seite von (neben, Präposition)" auszulegen. Somit versteht der Fachmann den Anspruchswortlaut in dem Sinne, dass die Kreiselrechen bewegbar sind in einen breiteren Bereich, der sich ungefähr an der Seite oder neben der Fahrerkabine erstreckt. Dieses Verständnis entspricht genau dem, was er aus die Beschreibung und Zeichnungen erfährt: um die äußeren Kreiselrechen leichter visuell zu kontrollieren (Absätze [0002],[0003] der Patentschrift), werden sie in der Arbeitsstellung näher an den Schlepper herangebracht, so dass sie sich "in einem Bereich seitlich neben der Fahrerkabine" befinden, Absatz [0011] in Bezug auf die Figur 2.
3.4 Der geltende Anspruch 1 kombiniert die Merkmale der erteilten Ansprüche 1,2 und 3, die wiederum den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 1,2 und 3 wortgleich sind. Im ursprünglichen Anspruch 3 hieß es, dass die beiden vorderen Kreiselrechen "in etwa bis in eine Position seitlich der Fahrerkabine bewegbar sind". Gegenüber diesem Wortlaut ist im geltenden Anspruch 1 "eine Position" durch "einen Bereich" und "seitlich" durch "seitlich neben" ersetzt worden.
Im Wortlaut des ursprünglichen Anspruchs 3 wird "seitlich" nun als Präposition mit der Bedeutung "neben" (siehe den Duden) verwendet; "in etwa" bedeutet wiederum "ungefähr". Bei normaler Auslegung dieser Begriffe liest der Fachmann somit aus dem Wortlaut des Anspruchs 3, dass die beiden vorderen Kreiselrechen ungefähr in eine Position neben der Fahrerkabine bewegbar sind. Nach diesem Verständnis sollen die Rechen nicht in eine präzise, wohldefinierte Position gebracht werden; sondern sie sind so zu positionieren ("in eine Position .... bewegbar"), dass sie sich ungefähr neben der Fahrerkabine befinden. Damit ist für den Fachmann mit dem Wortlaut des ursprünglichen Anspruchs 3 ein breiter Bereich an der Seite der Fahrerkabine definiert, worin die Rechen hineinbewegt werden müssen. Etwas anderes erfährt er auch nicht aus der Beschreibung und den Figuren, die in der ursprünglichen Fassung und nach der Patentschrift inhaltlich gleich sind.
Die Kammer kommt daher zum Schluss, dass der Fachmann den betreffenden Wortlaut des Anspruchs 3 (wie erteilt oder ursprünglich eingereicht) genauso auslegt wie den entsprechenden, geänderten Wortlaut des geltenden Anspruchs 1. Durch diese Änderungen im Anspruch 1 wird somit keine andere oder neue Information vermittelt, die über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinausgeht, Artikel 123(2) EPÜ. In diesem Zusammenhang stellt die Kammer fest, dass die Aufnahme der Formulierung aus Absatz [0011] der Beschreibung ("Bereich seitlich neben") in Anspruch 1 keine Zwischenverallgemeinerung bewirkt: diese Passage ist, was die Positionierung der beiden vorderen Rechen in Bezug auf die Fahrerkabine anbelangt, im ursprünglichen Anspruch 3 genauso auszulegen wie im geltenden Anspruch 1. Aus den gleichen Gründen geht auch die Argumentation bezüglich "seitlich neben" anstatt "seitlich" ins Leere: diese Ausdrücke sind identisch zu interpretieren, wobei "seitlich neben" als Tautologie zu verstehen ist.
Da der Fachmann den betreffenden Wortlaut im ursprünglichen Anspruch 3 und im geltenden Anspruch 1 gleich auslegt, ist der Schutzbereich in dieser Hinsicht auch nicht erweitert worden, Artikel 123(3) EPÜ.
Die Kammer hat unter Artikel 123 EPÜ keinen sonstigen Bedenken gegen die Änderungen im geltenden Anspruch 1, und solche sind auch nicht geltend gemacht worden. Diese genügen somit den Erfordernissen des Artikels 123(2) und (3) EPÜ.
3.5 Die Kammer schließt zudem aus den Erwägungen unter Abschnitt 3.3, dass bei normaler Leseweise des betreffenden Wortlauts des geltenden Anspruchs 1 dieser für den Fachmann klar verständlich ist. Ungeachtet der Frage der Zulässigkeit dieses verspäteten Einwands unter Artikel 84 ist dieser als grundlos zurückzuweisen.
3.6 Der Fachmann ist nicht nur im Stande, den Anspruchswortlaut klar auszulegen, nämlich so, dass die beiden vorderen Rechen in Arbeitsstellung in den breiten Bereich neben oder an der Seite der Fahrerkabine hineinbewegbar sein müssen. Er erfährt zudem aus der Gesamtoffenbarung - Beschreibung, Figuren und Ansprüche -, zu welchem Zweck die Rechen so bewegbar sein müssen und durch welche konkrete Maßnahme er diese Bewegbarkeit verwirklichen kann. Sie dient der verbesserten Sichtbarkeit, Absatz [0003] der Patentschrift, und wird durch die längenveränderliche Ausbildung des Zugbalkens realisiert, Absätze [0011],[0012]. Es mag sein, dass die genaue Anpassung der Länge von der relativen Position der Fahrerkabine auf der Maschine oder auf dem Schleppfahrzeug und somit vom Fahrzeugtyp abhängt. Dieser Umstand bedeutet aber nicht, dass der Fachmann nicht im Stande ist, die Lehre der Erfindung auszuführen. Dazu muss er nur, wie im Patent beschrieben, den Zugbalken längenveränderlich ausführen, damit er z.B. durch einfaches Ausprobieren und ohne unzumutbaren Aufwand die Rechen in Arbeitsstellung im gewünschten Bereich und mit dem gewünschten Ziel vor Augen platzieren kann. Die Kammer schließt hieraus, dass das Patent die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ erfüllt.
4. Erfinderische Tätigkeit
4.1 Die Neuheit wird ausgehend von D6 nicht mehr in Frage gestellt. Insbesondere erkennt die Beschwerdeführerin nun an, dass die Heuwerbungsmaschine nach der Figur 1 der D6 und wie auf Seiten 6 bis 9 beschrieben, Sternradrechen und keine Kreiselrechen (per Definition um senkrechte Achsen umlaufend angetrieben) wie im Anspruch 1 aufweist, und auch mehr als die beanspruchten "insgesamt sechs" Rechen hat. Es ist sonst unstrittig, dass die dort gezeigte Maschine, wie im geltenden Anspruch 1, einen längenveränderlichen Zugbalken 5 (Seite 7, letzter Absatz) mit darauf schwenkbaren Auslegern 8,8' und mit insgesamt 8 Rechenrädern aufweist. Die Ausleger sind dabei in Arbeitsstellung in Fahrtrichtung V-förmig ausgeschwenkt, (Figur 1, rechts) in Transportstellung eingeklappt (Figur 1, links). Strittig ist aber, ob der teleskopische Zugbalken (vgl. Seite 6, Zeilen 6 bis 8) für die beanspruchte Verwendung geeignet ist, d.h. dass die vorderen beiden Rechen in Arbeitsstellung im Bereich neben der Fahrerkabine bewegt werden können. Dass D6 eine solche Verwendung nicht offenbart ist unumstritten.
4.2 Für die Kammer stellt sich nun bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auf Grund des Problem-Lösung Ansatzes die zentrale Frage, ob der Fachmann von D6 ausgehend eine solche Heuwerbungsmaschine, die als Sternradrechenmaschine ausgebildet ist, ohne weiteres in eine Kreiselradrechenmaschine umwandeln würde.
4.3 Sie stellt dabei zuerst fest, dass die Lehre der D6 wohl ausschließlich Sternradrechen betrifft. Zwar ist der Hauptanspruch des D6 unspezifisch bezüglich der Rechenart formuliert, die Problemstellung wie auf Seite 2, 2. Absatz, beschrieben scheint dennoch nur auf solche Sternradrechen ("side delivery rakes") bezogen zu sein. Auch die Angabe auf Seite 8, unten, vorletzter Absatz, bezüglich den möglichen Ausgestaltungen der Rechen, ist wiederum auf Sternradrechen beschränkt (aus "radially extending tynes supported by disc shaped frame").
4.4 Zum anderen ist festzuhalten, dass für den Fachmann Sternradrechen und Kreiselrechen verschiedene Gattungen eines Rechens sind. Im klassischen Sternradrechen liegen die Rechen mit radialen Zinken wie Räder auf dem Boden auf und werden durch Bodenkontakt und dadurch, dass sie gezogen werden, um ihre horizontale Achse in Umlauf gebracht. Kreiselrechen dagegen werden durch einen Antrieb um eine vertikalen Achse in Drehung versetzt, wobei die Zinken vertikal zum Boden hin gerichtet sind. Somit werden die beiden Rechenarten durch ganz unterschiedliche Ausrichtung und Antrieb der Rechen charakterisiert.
4.5 Nach ständiger Rechtsprechung, siehe dazu RdBK, I.D.3.4.3 und die darin zitierten Entscheidungen, ist der Fachmann zwar in der Wahl eines Ausgangpunktes völlig frei, später ist er aber an diese Wahl gebunden. Durch eine bewusste, d. h. in Kenntnis der Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Gattungen getroffene Auswahl legt er nicht nur den als Ausgangspunkt dienenden Gegenstand fest, sondern gibt auch den Rahmen der Weiterentwicklung vor, nämlich eine Weiterentwicklung innerhalb dieser Gattung. Eine Änderung der bewusst gewählten Gattung zu einer anderen, bereits vorher bekannten, aber nicht gewählten ist während der Weiterentwicklung unwahrscheinlich und im Normalfall nicht naheliegend.
4.6 Wenn sich nun, wie im vorliegenden Fall, der Fachmann einen Sternradrechen als Ausgangspunkt auswählt, so kann er diesen im Zuge des normalen fachmännischen Handelns weiterentwickeln. Das Ergebnis dieser Entwicklung wird aber letztendlich stets eine Sternradrechenmaschine und nicht etwa ein Kreiselradrechen sein, ob er nun dabei auf allgemeines Fachwissen oder weiteren druckschriftlichen Stand der Technik wie der D3, D9, D11 oder D16 zurückgreift.
4.7 Es ist auch sonst nicht glaubhaft gemacht worden, dass der Fachmann, der mit Rechen in ihren verschiedenen Gattungsformen vertraut ist, in einer Maschine mit Rechen der einen Art diese einfach und ohne weiteres durch Rechen einer anderen Art ersetzen würde. Wie von der Beschwerdegegnerin glaubhaft gemacht, würden die andere Anordnung der Kreiselrechen und deren Antrieb einen solchen Umbau besonders erschweren.
4.8 Die Kammer schließt aus alledem, dass der Fachmann von der D6 ausgehend nicht ohne erfinderische Tätigkeit zum Erfindungsgegenstand gelangen würde, Artikel 56 EPÜ. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob die Maschine der D6 durch den längenveränderlichen Zugbalken zur beanspruchten Verwendung geeignet ist oder nicht.
4.9 In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat die Beschwerdeführerin eine neue Argumentationslinie von der D3 ausgehend vorbringen wollen. Obwohl die D3 in der Beschwerdebegründung (Seite 5, vorletzter Absatz) genannt wurde, ist sie dort nur als Kombinationsdruckschrift in Bezug auf längenveränderlichen Zugbalken und ohne detaillierte Begründung aufgeführt worden. Im Antwortschreiben wurde die D3 überhaupt nicht erwähnt. Es ist der Kammer auch nicht ersichtlich, wie diese neue Linie durch das letzte Schreiben der Beschwerdegegnerin, das sich nur mit der Kombination der D6 mit D3 auseinandersetzt (Seite 5, Abschnitt 2.2 a)), veranlasst sein sollte. Die Kammer stellt daher fest, dass die Beschwerdegegnerin dieses Vorbringen nicht hätte vorhersehen können. Da die Kammer zudem der Ansicht war, dass die Beschwerdegegnerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht genügend Zeit hätte, darauf angemessen zu reagieren, entschied sie in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13(3) VOBK, dieses neue Vorbringen nicht ins Verfahren zuzulassen. Weitere Angriffslinien sind nicht vorgebracht worden.
5. Keine der erhobenen Einwände gegen das Patent in der aufrechterhaltenen Fassung führt zum Erfolg. Die Kammer hat auch keinen sonstigen Grund anzunehmen, dass das geänderte Patent nicht die Erfordernisse des EPÜ erfüllt, Artikel 101(3)(a) EPÜ. Somit bestätigt sie die angefochtene Zwischenentscheidung, das Patent in geänderter Fassung aufrechtzuerhalten.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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