13 June 2016

T 1363/14 - Admissibility of witnesses

EPO Catchword
Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung

Key points

  • An OD commits a substantial procedural violation if it refuses to hear witnesses about public prior use on the ground that the presence of certain feature in the alleged prior art device can not be proven by witness' testimony.
  • The Board notes that the EPC does not require that proof of the alleged public prior use is submitted during the opposition period, rather the facts must be stated. If a complete and not inconsistent statement of facts is given with the opposition, the evidence proffered as proof is to be admitted into the proceedings. Only thereafter can the evidence be evaluated. In this case, the OD had in effect arbitrarily precluded the opponent from proving his allegations with witnesses. Such an anticipatory evaluation of the evidence is not justified. 

T 1363/14 - [C] - link 



Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Wesentlicher Verfahrensmangel
2.1 Zu ihrer Ablehnung der Anhörung der Zeugen [R] und [F] in Bezug auf die geltend gemachte offenkundige Vorbenutzung V hat die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung vorgetragen, dass nicht belegt worden sei, dass die Befestigungsvorrichtung gemäß D11 an dem Triebfahrzeug F angebracht wurde. Sie sehe nicht ein, wie die Zeugen diese fehlenden Tatsachen lückenlos hätten beweisen können. Die Vorbenutzung sei deshalb unzureichend substanziiert, weshalb die Zeugen nicht geladen worden seien (vgl. den Punkt 13 der Entscheidungsgründe).


2.2 Die Kammer teilt diese Sichtweise der Einspruchsabteilung nicht.
2.2.1 Wie aus dem Inhalt des Einspruchsschriftsatzes hervorgeht, waren die in Verbindung mit der geltend gemachten Vorbenutzung V in Hinblick auf ihre Substantiierung rechterheblichen Tatsachen, inklusive derjenigen, die durch Zeugenvernehmung bewiesen werden sollten, im Einspruchsschriftsatz aufgeführt und damit rechtzeitig dargelegt. Insbesondere geht aus dem Vortrag der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) im Einspruchsschriftsatz hervor, dass das Triebfahrzeug F mit der Befestigungsvorrichtung gemäß D11 vor dem Prioritätsdatum des Patents ausgestattet (vgl. Seite 10 der Einspruchsschrift) und an die Railion Deutschland AG geliefert worden sei. Zusätzlich wurden die relevanten technischen Merkmale, die an der Befestigungsvorrichtung vorhanden gewesen seien, auf Seiten 15 ff. des Einspruchsschriftsatzes unter Bezug auf die Zeichnung D11 dargelegt. Die Zeugen [R] und [F] sind auf Seiten 10/11 der Einspruchsschrift zum Beweis des Vorhandenseins dieser technischen Vorrichtung mit den dargelegten Merkmalen an der angeblichen Lokomotive F benannt.
2.2.2 Somit hatte die Einsprechende mit dem Einspruchsschriftsatz die für die Beurteilung der Vorbenutzung relevanten Tatsachen im Detail vorgetragen und ihre Existenz durch ergänzend eingereichte Beweismittel plausibel gemacht. Zweifel an den vorgetragenen Tatsachen ergeben sich weder durch das Fehlen üblicherweise vorhandener Unterlagen noch durch Widersprüche in den vorgelegten Unterlagen. Es liegt daher ein substantiierter und hinreichend glaubhafter Vortrag dazu vor, warum der Gegenstand der Vorbenutzung V alle Merkmale des Anspruchs 1 des Patents erkennen lasse. Die Frage, ob die geltend gemachte Vorbenutzung V stattgefunden hat oder nicht, erscheint somit für die Beurteilung der Patentfähigkeit des beanspruchten Gegenstandes von entscheidender Bedeutung.
2.2.3 Es liegt kein Fall vor, bei dem die zu bewertenden Tatsachen erst mit Hilfe der Zeugen ermittelt werden sollen und von ihnen dann erstmals ins Verfahren eingebracht würden. Die technisch relevanten Tatsachen sind hier durch das Einreichen der technischen Zeichnung D11 bereits dargelegt und es müsste noch die Behauptung der Einsprechenden überprüft werden, dass die Befestigungsvorrichtung gemäß D11 an dem Triebfahrzeug F angebracht war, wofür die Zeugen benannt worden sind. Gerade weil die Einsprechende substantiiert vorgetragen hatte, der Gegenstand der Vorbenutzung ließe alle Merkmale des Patents erkennen, wäre es die Aufgabe der Einspruchsabteilung gewesen, die zu ihrem Nachweis angebotenen Beweise durch Vernehmung der Zeuge zu erheben.
2.2.4 Die Verweigerung der Anhörung der Zeugen hat die Einspruchsabteilung damit begründet, dass die Vorbenutzung unzureichend substantiiert ist, weil die Zeugen diesen Beweis nicht erbringen könnten. Keine Vorschrift des EPÜ verlangt, dass das zu einer behaupteten Vorbenutzung gemachte Vorbringen innerhalb der Einspruchsfrist bereits bewiesen sein muss, damit die Vorbenutzung substantiiert wird. Die Einspruchsabteilung vermengt in ihrer Argumentation betreffend das nach den Richtlinien nicht zulässige "Einbringen von Tatsachen" den Vortrag von Tatsachen und deren Beweis.
Es obliegt der Einsprechenden, alle für eine behauptete Vorbenutzung relevanten Tatsachen vorzutragen. Für den Fall, dass diese nicht von der Gegenseite zugestanden werden, hat sie auch vorsorglich geeignete Beweismittel anzubieten. Hierunter fallen gemäß Artikel 117 (1) EPÜ unter anderem Urkunden, Augenscheinsobjekte und Zeugen.
Unzulässig ist es, statt eines konkreten Vortrages lediglich anzukündigen, die Zeugen könnten die näheren Umstände der Vorbenutzung darlegen. In diesem Fall würde die Einsprechende ihrer Darlegungspflicht nicht gerecht und ihr Beweisangebot hätte den Charakter eines Antrags auf Beweisermittlung: denn die relevanten Tatsachen würden nicht von der Einsprechenden vorgetragen und von den Zeugen bewiesen, sondern sollten erstmals von den Zeugen in das Verfahren eingebracht werden.
Umgekehrt liegt es in der Natur eines Zeugenangebotes, anzukündigen, dass die Zeugen die (zuvor bereits) vorgetragenen Tatsachen bestätigen werden. In diesem Falle werden die relevanten Tatsachen nicht erst durch die Zeugen in das Verfahren eingebracht, sondern von diesen nur bestätigt, wodurch (Glaubwürdigkeit der Zeugen und Glaubhaftigkeit ihrer Aussage vorausgesetzt) der Beweis als erbracht gelten kann.
Dabei ist es nicht zulässig, im Rahmen einer vorweggenommenen Beweiswürdigung Mutmaßungen anzustellen, woran ein Zeuge sich wird erinnern können und woran nicht. Das Prinzip der freien Beweiswürdigung ist erst nach Erhebung der Beweismittel anwendbar und kann nicht zur Rechtfertigung verwendet werden, angebotene Beweise nicht zu erheben (vgl. T 474/04, Gründe Punkt 8 mit Verweis auf G 3/97, Gründe Punkt 5). Sofern ein vollständiger, widerspruchsfreier Tatsachenvortrag vorliegt, sind die zu seinem Beweis angebotenen Beweismittel daher zu erheben. Erst danach können sie gewürdigt werden.
Die Einspruchsabteilung hat mit ihrer Weigerung, die Zeugen [R] und [F] zu laden, im Ergebnis somit willkürlich die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Behauptungen der Einsprechenden durch die Zeugen bestätigt werden können. Eine derartig vorweggenommene Beweiswürdigung war nicht gerechtfertigt. Die angebotenen Beweise sind zu erheben, wenn die vorgetragenen und zu Beweis gestellten Tatsachen im Falle ihrer Bestätigung die geltend gemachte (und für die Entscheidung relevante) Vorbenutzung tragen würden. Es war nicht auszuschließen, dass die Zulassung des Beweisangebots zu einer anderen als der tatsächlich getroffenen Entscheidung geführt hätte.
2.2.5 Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass die Einspruchsabteilung mit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung ohne Anhörung der angebotenen Zeugen [R] und [F] den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß den Artikeln 117 (1) EPÜ und 113 (1) EPÜ verletzt hat (vgl. T 716/06, Gründe Punkt 4). Die Ablehnungsbegründung war daher rechtswidrig. Die Entscheidung ist daher aufzuheben.
3. Artikel 11 VOBK (Verfahrensordnung der Beschwerdekammern) sieht vor, dass eine Kammer die Angelegenheit an die erste Instanz zurückverweist, wenn das Verfahren vor der ersten Instanz wesentliche Mängel aufweist. Da die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall die Zurückverweisung beantragt hat und die Beschwerdegegnerin sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt hat (Schreiben vom 10. Februar 2016), verweist die Kammer die Angelegenheit zur weiteren Behandlung an die erste Instanz zurück.
4. Da der Beschwerde stattgegeben wird und die Entscheidung der ersten Instanz an einem wesentlichen Verfahrensmangel leidet, hält es die Kammer gemäß Regel 103 (1) a) EPÜ für billig, die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen (so auch T 1198/97, Gründe Punkt 7 und T 1101/92, Gründe Punkt 5).
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung mit der Auflage zurückverwiesen, das Einspruchsverfahren fortzusetzen.
3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.

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