Key points
- In this examination appeal, the applicant complains firstly that the composition of the examining division changed between the summons and the oral proceedings.
- The Board sees no problem in this. In the original German: “Die Beschwerdeführerin scheint von einem festen Entscheidungsorgan auszugehen, das von der Amtsleitung ein für alle Mal "berufen" wäre. Derartiges ergibt sich allerdings weder aus dem EPÜ noch aus allgemein anerkannten verfahrensrechtlichen Grundsätzen; insbesondere gilt das für das Verfahren vor den Beschwerdekammern verbriefte Recht der Parteien auf eine Entscheidung durch die gesetzliche Richterin/den gesetzlichen Richter [...] nicht auch für das erstinstanzliche Prüfungsverfahren und die damit befassten Entscheidungsorgane.”
- It is important that the written decision is signed by the Examiners that participated in the oral proceedings (established case law).
- The Examining Division cited two new documents during the oral proceedings as evidence of common general knowledge. The Board fundamentally sees no problem with this, provided that the representative is given enough time in a break of the oral proceedings to study the documents.
- The Board considers it to be the nature of oral proceedings that previously unimportant aspects of the case are discussed or may become particularly relevent. Otherwise, oral proceeding would have limited added value compared to a procedure in writing.
- The Board admits a new request filed during oral proceedings before the Board under Art. 13(2) RPBA 2020, because the Board decided that claim 1 was in fact inventive and then took up a clarity objection against one of the dependent claims. “ Im Hinblick auf das Gebot des Fair Trial i.S.d. Artikel 6(1) EMRK muss die Beschwerdeführerin durchaus berechtigt sein, auf den wieder aufgegriffenen Einwand zu reagieren.”
- The Board hence refers to the 'fair trial' of Art. 6 ECHR.
T 2344/16 -
https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t162344du1.html
Entscheidungsgründe
Rückerstattung der Beschwerdegebühr
1. Die Beschwerdeführerin erblickt einen wesentlichen Verfahrensmangel darin, dass "offensichtlich nicht die von der Amtsleitung zur Prüfung dieser Patentanmeldung eingesetzten Bediensteten des Europäischen Patentamts, welche ausweislich des Ladungsbescheids die Prüfungsabteilung bildeten, die Verhandlung am 18.04.2016 durchgeführt und die Entscheidung vom 18.07.2016 getroffen" hätten, "sondern mehrheitlich andere Bedienstete, welche hierzu von der Amtsleitung offensichtlich mehrheitlich gar nicht berufen waren." Die Entscheidung sei daher "unwirksam" und "wegen dieses groben Verfahrensfehlers" sei auch die Beschwerdegebühr zurückzuerstatten.
2. Als weiterer wesentlicher Verfahrensmangel wird geltend gemacht, dass erst in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung weiterer Stand der Technik (Dokumente D4 und D5) in das Verfahren eingeführt worden seien, auf welchen die Entscheidung über die Zurückweisung sich maßgeblich stützte. Dem im Hinblick darauf gestellten Antrag auf Vertagung der Verhandlung sei nicht entsprochen und die Beschwerdeführerin daher in ihrem rechtlichen Gehör verletzt worden, da ihr Vertreter den Inhalt der Druckschriften D4 und D5 mit ihr "nicht besprechen konnte".
Schließlich verweist die Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang auf das Prinzip der Waffengleichheit, zumal von den Parteien erwartet werde, dass sie ihre Anträge innerhalb fester Fristen einreichen würden. Die Prüfungs- und Einspruchsabteilungen seien besonders streng bei der Auslegung solcher Bestimmungen, wenn es darum ginge, über die Zulassung neuer Anträge oder neu eingereichten Standes der Technik zu befinden. Im Gegensatz dazu würden sich die Prüfungsabteilungen selbst eine gewisse Freiheit nehmen, neue Dokumente erst während einer mündlichen Verhandlung einzuführen, wie auch der vorliegende Fall zeige.
3. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern stellt die Änderung der Zusammensetzung der Prüfungsabteilung vor der mündlichen Verhandlung allein keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und auf rechtliches Gehör dar. Einer Änderung der Besetzung einer Prüfungsabteilung steht grundsätzlich nichts entgegen, wobei auch kein bestimmtes Verfahren einzuhalten ist (Rechtsprechung der Beschwerdekammern III.K.1. m.w.N., zuletzt T 1207/09).
4. Die Zuständigkeit der Prüfungsabteilungen für die Prüfung europäischer Patentanmeldungen ergibt sich aus Artikel 18(1) EPÜ. Ihre Zusammensetzung wird in Artikel 18(2) EPÜ geregelt. Die Beschwerdeführerin scheint von einem festen Entscheidungsorgan auszugehen, das von der Amtsleitung ein für alle Mal "berufen" wäre. Derartiges ergibt sich allerdings weder aus dem EPÜ noch aus allgemein anerkannten verfahrensrechtlichen Grundsätzen; insbesondere gilt das für das Verfahren vor den Beschwerdekammern verbriefte Recht der Parteien auf eine Entscheidung durch die gesetzliche Richterin/den gesetzlichen Richter (s. dazu Rechtsprechung der Beschwerdekammern III.J.1.5. m.w.N.) nicht auch für das erstinstanzliche Prüfungsverfahren und die damit befassten Entscheidungsorgane.
Dies hat nicht zuletzt auch praktische Gründe: So wäre es bei einer unveränderlichen Zusammensetzung der Prüfungsabteilung kaum möglich, sicherzustellen, dass die ursprüngliche Besetzung über die gesamte - oft längere - Dauer der Prüfung tatsächlich in der Lage wäre, ihre Rolle bis zur Endentscheidung zu erfüllen. Die Gründe dafür sind vielerlei (Krankheiten, Pensionierungen, Beförderungen...).
Entscheidend ist lediglich, dass die Prüfungsabteilung grundsätzlich in jener Zusammensetzung zu entscheiden hat, in der auch die mündliche Verhandlung abgehalten wurde. Die hier vorliegenden Umstände sind also insbesondere etwa von dem Fall zu unterscheiden, in dem ohne nachvollziehbare Gründe die Prüferinnen und Prüfer, die die abschließende schriftliche Entscheidung unterzeichnen, von jenen abweichen, die in der mündlichen Verhandlung über den Fall entschieden haben (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern III.K.1.1. m.w.N., insb. T 390/86, ABl. EPA 1989, 39 [für das insoweit gleichgelagerte Einspruchsverfahren]).
5. Besondere Umstände, die im vorliegenden Fall mit einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren einhergehen könnten, tut die Beschwerdeführerin im Übrigen gar nicht dar.
6. Zum weiteren Vorwurf hinsichtlich einer Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführerin durch die Einführung der Dokumente D4 und D5 ist festzuhalten, dass die mündliche Verhandlung auf ihren Antrag für mehr als zwei Stunden unterbrochen und ihrem Vertreter damit ausreichend Gelegenheit gegeben wurde, sich mit dem neu eingeführten Stand der Technik auseinanderzusetzen. Nach der Unterbrechung der mündlichen Verhandlung bestätigte er auf Nachfrage zudem ausdrücklich, dass er ausreichend Zeit gehabt habe, sich mit dem Inhalt des neu eingeführten Standes der Technik vertraut zu machen. Er hatte an dieser Stelle allerdings zugleich auch darauf hingewiesen, nicht genügend Zeit gehabt zu haben, zu überprüfen, ob das Datum des Druckvermerks in den jeweiligen Dokumenten D4 und D5 auch dem Publikationsdatum entspreche, und ob diese daher öffentlich zugänglich gewesen seien.
7. Dieser Vorwurf der Unüberprüfbarkeit der Veröffentlichungsdaten wird von der Beschwerdeführerin im Rahmen ihrer Verfahrensrüge nicht mehr aufrechterhalten. Dass sie den Inhalt der D4 und D5 nicht mit ihrem Vertreter habe besprechen können, hat sie zudem in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung gar nicht ins Treffen geführt und im Gegenteil eben ausdrücklich eingeräumt, genügend Zeit zur Auseinandersetzung mit diesen Dokumenten gehabt zu haben. Auch insoweit gehen ihre Ausführungen ins Leere.
8. Zum Vorwurf einer Verletzung der Waffengleichheit räumt die Kammer ein, dass die Einführung von (neuem) Stand der Technik zu einem späten Stadium der Prüfung, und insbesondere während der mündlichen Verhandlung, die Parteien vor gewisse Herausforderungen stellen kann. Dies gilt insbesondere bei komplexem Sachverhalt und bei größerem Umfang des neu eingeführten Materials.
9. Es liegt jedoch in der Natur der Debatte während der mündlichen Verhandlung, dass bisher nicht zentrale Aspekte erörtert werden oder auf einmal besondere Relevanz erlangen. Andernfalls wäre der Mehrwert einer mündlichen Verhandlung i.S.d. Artikels 116 EPÜ gegenüber einem bloß schriftlichen Verfahren schon grundsätzlich zu hinterfragen. Wenn die Prüfungsabteilung im Rahmen der Prüfung auf einen neuen Stand der Technik stößt oder - wie hier - zur Stützung ihrer Auffassung zum Nachweis allgemeinen Fachwissens in Anwendung des Artikel 114 EPÜ neuen Stand der Technik in das Verfahren einführt, begegnet dies an sich keinen Bedenken. Dies dient, im Gegenteil, auch dem Interesse der Öffentlichkeit, die von einer vollständigen Prüfung einer Anmeldung durch die Erteilungsbehörde ausgeht und auch ausgehen kann. Darüber hinaus soll nicht zuletzt auch der Partei Gelegenheit gegeben werden, sich zu dem neu vorgelegten Stand der Technik zu äußern.
10. Die Alternative einer Vertagung der mündlichen Verhandlung bei jeder Vorlage neuer Dokumente wäre in niemandes Interesse, da sie in aller Regel eine Verzögerung der Verfahren nach sich ziehen würde. Den für die Parteien entstehenden Herausforderungen wird grundsätzlich dadurch Rechnung getragen, dass die Prüfungsabteilung eine Unterbrechung der Verhandlung anbietet, wie dies auch im vorliegenden Fall geschehen ist. Das Angebot wurde wahrgenommen und der Vertreter der Beschwerdeführerin konnte sich mit den neu eingeführten Dokumenten (D4 und D5) vertraut machen.
11. Im vorliegenden Fall wurden die Dokumente zudem eben als Beleg für das seitens der Prüfungsabteilung angenommene und von der Beschwerdeführerin in Zweifel gezogene allgemeine Fachwissen herangezogen. Die Einführung solcher Belege entspricht sohin ihrem eigenen Anliegen; daraus kann sie sich nicht beschwert erachten.
12. Ein wesentlicher Verfahrensmangel i.S.d. Regel 103(1) a) EPÜ und von Artikel 11 VOBK 2020, der die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Prüfungsabteilung und/oder eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigen könnte, liegt daher nicht vor.
Hauptantrag - Berücksichtigung (Zulassung)
13. Der im Laufe der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer neu eingereichte Hauptantrag unterscheidet sich von dem ursprünglichen Hauptantrag dadurch, dass der abhängige Anspruch 4 an die Beschreibung angepasst ist. Er wurde eingereicht, nachdem sich im Zuge der Diskussion gezeigt hatte, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 zwar neu und erfinderisch ist, Anspruch 4 aber (doch) Bedenken im Hinblick auf Artikel 84 EPÜ begegnet, und die Kammer daher den Einwand der mangelnden Stützung gegen den Anspruch 4 wieder aufgreifen wolle.
14. Der neue Antrag stellt eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne des Artikels 13(1) VOBK 2020 dar, die damit dem Regime des Artikels 13(2) VOBK unterliegt. Sie ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der ursprünglich von der Prüfungsabteilung erhobene Einwand in genannter Richtung zunächst von der Kammer nicht weiterverfolgt worden war, nun aber neuerlich aufgegriffen wurde. Im Hinblick auf das Gebot des Fair Trial i.S.d. Artikel 6(1) EMRK muss die Beschwerdeführerin durchaus berechtigt sein, auf den wieder aufgegriffenen Einwand zu reagieren.
15. Der Wortlaut des Anspruchs 4 wurde der Beschreibung (Seite 6, Zeile 30) angepasst, um klar zum Ausdruck zu bringen, dass ein konstanter Zeitkorrekturfaktor aus der mittleren Steigung der ermittelten Phasenanteile ermittelt wird.
16. Der Widerspruch zwischen der Beschreibung und dem ursprünglichen Wortlaut des Anspruchs 4 ist somit ausgeräumt. Der beanspruchte Gegenstand ist nun klar und im Sinne des Artikels 84 EPÜ durch die Beschreibung gestützt. Er ist - wie im Folgenden zu zeigen ist - auch gewährbar.
17. Damit liegen außergewöhnliche Umstände i.S.d. Artikels 13(2) VOBK 2020 vor, die die Berücksichtigung des (neuen) Hauptantrags rechtfertigen (ebenso zur Wiedereinführung vor der Prüfungsabteilung erhobener Einwände durch die Kammer T 922/17; vgl. auch zu erstmals in der mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren erhobenen Einwänden T 1561/15 und T 1482/17).
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