14 August 2015

T 1502/11 - Self-contradicting but enabled

EPO T 1502/11


Key Points
  • Claim 1 of the main request in opposition was inconsistent but apparently not open to a clarity objection (G3/14)
  • The claims are interpreted in such a way that technical inconsistencies are avoided and the interpretation is consistent with the description.
  • The Board notes that,  the " invention" which is to be sufficiently disclosed according to A83 is the subject-matter of the claims. The Board interprets the claims in the light of the description and finds them to be sufficiently disclosed.
  • The opponent had not substantiated lack of inventive step in appeal, hence this ground is disregarded.

Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde betrifft die Entscheidung der Einspruchsabteilung den Einspruch, basierend auf Artikel 100(b) und 100(a) in Kombination mit den Artikeln 54 und 56 EPÜ, gegen das Patent EP-B-1 572 336 zurückzuweisen.

[In the pending Main Request, claim 1 is based on claims 1 and 3 as granted].

Entscheidungsgründe
Hauptantrag
[...]
2. Auslegung des Anspruchs 1
2.1 Die Annahme, dass ein erteilter Anspruch klar sei, wenn sowohl die Prüfungs- als auch die Einspruchsabteilung dazu keine Stellung bezogen haben, kann nicht akzeptiert werden. Es ist einerseits nicht eindeutig, ob die Prüfungsabteilung einen möglichen Klarheitsmangel übersah oder als nicht gegeben ansah (G 3/14, Gründe 80 (k)). Andererseits ist ein Klarheitsmangel kein Einspruchsgrund und muss deshalb von der Einspruchsabteilung nicht diskutiert werden.
2.2 Der Wortlaut des Anspruchs 1 ist widersprüchlich, da die Wirkstoffskammer und die Gaskammer durch Kolben verschlossen sind; gleichzeitig jedoch ist der Schaumerzeuger mit der Wirkstoffkammer und der Gaskammer verbunden. Außerdem müssen die beiden Kolben über ein Verbindungselement miteinander verbunden sein, das beim Verschieben eine der beiden Kammern öffnet.


Die wortwörtliche Definition der Vorrichtung in Anspruch 1 ist nicht im Einklang mit der Beschreibung, da anspruchsgemäß eine Verbindung der verschlossenen Kammern (10) und (12) mit dem Schaumerzeuger (38) vorgesehen ist. Die Verbindung des Schaumerzeugers 38 mit der Wirkstoffkammer 12 ist in Figur 1 nicht ersichtlich, sondern entsteht erst dadurch, dass die Wirkstoffkammer 10 geöffnet wurde (Figur 2). Dies bedeutet, dass die Verbindung der beiden Kammern mit dem Schaumerzeuger nur möglich ist, wenn das Verbindungselement in die vom Schaumerzeuger entfernt liegende Kammer hineinragt und somit die Kammer geöffnet hat. In dem Fall ist die Wirkstoffkammer 10 nicht mehr mit dem Kolben verschlossen (nach außen hin fest zu), sondern der Kolben begrenzt den Raum und enthält eine Öffnung.
Aus Figur 1 ist auch nicht ersichtlich, wie die beiden Kolben (16,30) miteinander verbunden sind. Diese Verbindung entsteht erst, wenn das Verbindungselement in den Kolben 16 hineinragt. Wenn beide Kolben miteinander verbunden sind und die Wirkstoffkammer als auch die Gaskammer mit dem Schaumerzeuger verbunden sind, sind beide Kammern geöffnet (Figur 2), sodass der kennzeichnende Teil des Anspruchs 1 widersprüchlich ist.
2.3 Es ist also offensichtlich, dass die beiden Kammern nicht verschlossen sind, wenn die Wirkstoffkammer und die Gaskammer mit dem Schaumerzeuger verbunden sind. Der Fachmann stellt also fest, dass die wortwörtliche Auslegung des Anspruchs 1 Bedingungen enthält, die nicht gleichzeitig erfüllt sein können. Es gibt folglich Widersprüche, die technisch keinen Sinn ergeben. Der Fachmann wird deshalb versuchen, den Anspruch so auszulegen, dass er technisch sinnvoll und im Einklang mit der Beschreibung ist (T 396/99, Gründe 3.5).
2.4 Folgende Auslegung, die im Grunde genommen eine Vorrichtung mit bestimmten Merkmalen, die eine bestimmte Verfahrensführung erlaubt, betrifft, scheint technisch Sinn zu ergeben.
Die Vorrichtung enthält zwei Kammern, die jeweils durch einen Kolben verschlossen sind. Dies bedeutet, dass beide Kolben sicherstellen, dass die Substanzen aus den Kammern nicht entweichen. Die beiden Kolben werden verbunden, wenn der Wirkstoff und das Gas zum Schaumerzeuger gefördert werden sollen ("zum Fördern des Wirkstoffs und des Gases"). Sie sind zu dem Zeitpunkt dann auch gemeinsam verschiebbar. Dies impliziert, dass ein Element vorhanden sein muss, das eine Verbindung zwischen beiden Kolben ermöglicht. Dieses Verbindungselement (32) stellt die Verbindung der beiden Kolben sicher und führt dazu, dass die Wirkstoffkammer (10), während des gemeinsamen Verschiebens der verbundenen Kolben, "öffnet". In dem Moment sind auch die Wirkstoffkammer und die Gaskammer mit dem Schaumerzeuger verbunden d.h. die Inhalte der beiden Kammern können zum Schaumerzeuger gelangen. Das Verbindungselement ist so ausgestaltet, dass es ein Element enthält, das den Kolben der Wirkstoffkammer mitnimmt. Das mehrfach verwendete Merkmal "verbunden" in Anspruch 1 wird so ausgelegt, dass es sich auf den Moment bezieht, wo das Gas und der Wirkstoff zum Schaumerzeuger gefördert werden und Schaum erzeugt wird.
2.5 Diese Interpretation ist auch im Einklang mit der Beschreibung, aus der hervorgeht, dass die beiden Kammern anfänglich dicht abgeschlossen sind (Spalte 2, Zeilen 55 bis 57), durch das Verschieben des Verbindungselementes ein Verbinden der beiden Kolben erfolgt (Spalte 2, Zeilen 52 bis 54) und dann beim Verschieben des Verbindungselementes - das dann auch beide Kolben verbindet - eine der beiden Kammern geöffnet wird (Spalte 2, Zeilen 50 bis 51). Der Absatz 11 des Patents ist etwas widersprüchlich formuliert, da zuerst erwähnt wird, dass die beiden Kolben über ein Verbindungselement miteinander verbunden sind (Spalte 2, Zeilen 47 und 48). Anschließend geht aus besagtem Absatz hervor, dass diese Verbindung erst durch Verschieben des Verbindungselementes entsteht. Daraus wird der Fachmann erkennen, dass der Wortlaut "die beiden Kolben über ein Verbindungselement miteinander verbunden", der sowohl im Anspruch 1 als auch in Spalte 11 vorhanden ist nicht wortwörtlich zu verstehen ist, sondern als Resultat vorheriger Verfahrensschritte. Dies bedeutet, dass die Vorrichtungsmerkmale so gestaltet sein müssen, dass diese Verfahrensschritte ausgeführt werden können. Dies ist durch die oben stehende Auslegung gegeben.
Die Auslegung, dass die Kammern verschlossen sind, steht auch nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass das Verbindungselement Öffnungen 32 und der Kolben Öffnungen 58 hat, da diese Öffnungen erst unter Druck freigegeben werden. Dies geht auch eindeutig aus der Beschreibung hervor, in der erwähnt wird, dass das Fördern des Gases durch eine Erhöhung des Drucks in der Kammer entsteht (Spalte 2, Zeilen 27 bis 30 sowie Spalte 6, Zeilen 2 bis 10).
2.6 Es sei noch angemerkt, dass "beim Verschieben" nicht bedeutet, dass die Kammer durch das Verschieben "öffnet", sondern nur zeitgleich mit dem Verschieben.
3. Neuheit
[...]
3.3 Die in den Figuren 6 und 7 des Dokumentes O1 gezeigte Spritze zeigt somit alle Merkmale des Anspruchs 1 im Einklang mit der oben (Punkt 2.3) beschriebenen Auslegung. Deshalb wird der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht als neu gegenüber O1 angesehen.
Der Hauptantrag ist somit nicht gewährbar.
Hilfsantrag
4. Zulässigkeit
[...] Der Antrag wird somit in das Verfahren zugelassen.
5. Ausführbarkeit
5.1 Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ
Gemäß Artikel 83 EPÜ ist die Erfindung in der europäischen Patentanmeldung so deutlich und vollständig zu offenbaren, dass ein Fachmann sie ausführen kann.
Die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern sieht die Erfordernisse der Ausführbarkeit nur dann als erfüllt an, wenn die in den unabhängigen Ansprüchen definierte Erfindung durch einen Fachmann im gesamten beanspruchten Bereich ohne unzumutbaren Aufwand unter Verwendung seines allgemeinen Fachwissens und weiterer Angaben in der vorliegenden Anmeldung nachgearbeitet werden kann (z.B. T 409/91, Gründe 3.5; T 435/91, Gründe 2.2 und 2.2.1)
Der beanspruchte Gegenstand ist als "die Erfindung" anzusehen. Dieser Gegenstand sollte vom Fachmann verstanden werden können und die gesamte Patentanmeldung sollte ausreichend Informationen und Anleitungen enthalten, die es dem Fachmann ermöglichen den Gegenstand des Anspruchs ("Erfindung") zu erhalten.
5.2 Vorliegender Fall
Wie weiter oben ausgeführt, ist der beanspruchte Gegenstand an sich widersprüchlich, sodass eine technisch sinnvolle Auslegung nötig ist.
Als erstes würde der Fachmann die oben beschriebene Auslegung (Punkt 2.3) im Lichte der gesamten Patentschrift durchführen, um die Erfindung zu verstehen.
Es stellt sich dann die Frage, ob die Patentschrift genügend Informationen und Anleitungen enthält, die es dem Fachmann ermöglicht, die Erfindung über den gesamten Bereich auszuführen.
Das Patent beschreibt ausführlich ein Ausführungsbeispiel, das durch die Figuren 1 bis 4 illustriert wird. Dabei sind die zwei Kammern in Figur 1 durch Kolben 30, respektive Kolben 16 verschlossen, sodass weder Gas noch Wirkstoff austreten kann. Damit der Wirkstoff und das Gas zum Schaumerzeuger geleitet werden können und somit Schaum erzeugt wird, werden beide Kolben über die Hohlnadel verbunden, wobei die Hohlnadel noch ein Mitnahmeelement zur Mitnahme des Kolbens enthält. Durch weiteres Verschieben der Hohlnadel sticht die Hohlnadel durch den Kolben 16 hindurch und öffnet die Wirkstoffkammer. Durch das Verschieben der Hohlnadel wird der Druck in beiden Kammern erhöht, sodass sowohl das Gas als auch der Wirkstoff zum Schaumerzeuger gelangen können (siehe auch Absätze 27 und 28).
Es wird also gezeigt, wie die beiden Kolben verbunden werden, sodass sie gemeinsam verschiebbar sind, wie sichergestellt wird, dass das Verschieben der beiden Kolben sowohl den Wirkstoff als auch das Gas zum Schaumerzeuger leitet, und wie eine Kammer durch Verschieben des Verbindungselementes geöffnet wird.
Zudem ist die Lehre des Patents bezüglich der verschlossenen Gaskammer 12 und der Öffnungen 58 dahingehend eindeutig, dass vor dem Fördern des Gases zum Schaumerzeuger kein Gas entweichen kann (Spalte 4, Zeile 41: dicht verschlossen). Erst unter Druck wird Gas aus der Gaskammer 12 durch Öffnungen 58 und/oder durch Querbohrungen in der Hohlnadel 32 in den Schaumerzeuger gedrückt (Spalte 6, Zeilen 6 bis 10), sodass das Gas und der Wirkstoff gemeinsam zum Schaumerzeuger gelangen können. Dies bedeutet für den Fachmann, dass diese Öffnungen so gestaltet sein müssen, dass sie erst unter Druck für das in der Gaskammer vorhandene Gas durchlässig werden. Das Patent gibt keine Anleitungen, wie solche Öffnungen auszusehen haben, aber ein Fachmann weiß, wie solche Öffnungen ausgestaltet werden können, damit erst unter Druck das Gas hindurchgelangen kann. Dabei spielen sicherlich die Größe der Öffnungen und mögliche Abdeckungen eine Rolle.
Es ist also möglich, dass der gleiche Kolben, der die Kammer gasdicht abschließt, auch Öffnungen enthält, die jedoch erst unter erhöhtem Druck freigegeben werden.
Zudem lehrt das Patent wie der Schaumerzeuger aufgebaut sein soll, damit Schaum erzeugt werden kann (Spalte 5, Zeilen 7 bis 10).
Es gibt keinen Beweis, z.B. in Form von Ausführungsbeispielen, dafür, dass es Vorrichtungen gibt, die unter den interpretationsbedürftigen Anspruch 1 fallen und komplett außerhalb der Lehre des Patentes sind, sodass sie nur mit erfinderischem Zutun erhalten werden könnten.
Die Kammer kommt deshalb zum Schluss, dass das Patent ausreichend Informationen und Anleitungen enthält eine Vorrichtung gemäß Anspruch 1 zu erhalten.
Die Bedingungen des Artikels 83 EPÜ sind somit erfüllt.
6. Neuheit
6.1 Anspruch 1 ist jetzt dahingehend spezifiziert, dass das Verbindungselement als Hohlnadel ausgebildet ist, so dass ein Aufstechen einer der beiden Kammern erfolgt, indem die Hohlnadel durch einen der Kolben hindurch sticht. Dies bedeutet, dass die Öffnung einer der beiden Kammern durch das Hindurchstechen der Hohlnadel erfolgt. Zu dem Zeitpunkt beginnt das Fördern des Wirkstoffs und des Gases zum Schaumerzeuger.
6.2 Die Figuren 6 und 7 aus Dokument O1 offenbaren kein Verbindungselement, das als Hohlnadel ausgebildet ist. Vielmehr ist das Verbindungselement 116 ein Zylinder. O1 nimmt die Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 1 somit nicht vorweg.
6.3 O10 offenbart in Figuren 1 bis 4 eine Spritze zum Mischen und Abgeben zweier Substanzen in unterschiedlichen Verfahrensstadien. Die zwei Kammern 20 und 22 sind durch Kolben 14 respektive Diaphragma 18, das auch als Kolben angesehen wird, verschlossen. Durch das Verschieben des Kolbens 14 erhöht sich der Druck in der Kammer 20, was dazu führt, dass sich die flexible Diaphragmawand 96 zur Nadelspitze 104 bewegt und durchstochen wird.
O10 offenbart nicht, dass die Kolben 14 und 18 miteinander verbunden sind. Selbst wenn davon ausgegangen würde, dass der Kolben 18 unter Druck leicht verschoben würde und somit zur Öffnung der Kammer 20 führte, so ist trotzdem keine Verbindung der beiden Kolben 14 und 18 zu erkennen. Es ist zudem kein Verbindungselement vorhanden, das verschoben werden kann, als Hohlnadel ausgebildet ist und beim Verschieben die Kammer öffnet. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die Nadel 116 als Schaumerzeuger angesehen werden kann. O10 ist somit nicht neuheitsschädlich für den Gegenstand des Anspruchs 1.
6.4 Die Beschwerdeführerin hat keine weiteren Neuheitseinwände im Beschwerdeverfahren vorgebracht.
Die Bedingungen des Artikels 54 EPÜ sind somit erfüllt.
7. Erfinderische Tätigkeit
Gemäß Artikel 12(1)a) liegen dem Beschwerdeverfahren die Beschwerde und die Beschwerdebegründung zugrunde. Artikel 12(2) VOBK sieht vor, dass die Beschwerdebegründung den vollständigen Sachvortrag eines Beteiligten enthalten muss. Sie muss deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen, und soll ausdrücklich und spezifisch alle Tatsachen, Argumente und Beweismittel anführen.
Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin den Einwand der erfinderischen Tätigkeit während des Beschwerdeverfahrens nicht substantiiert, sodass dieser nicht als Teil des Beschwerdeverfahrens angesehen werden kann.
Die erfinderische Tätigkeit ist deshalb nicht zu beanstanden.
8. Der unabhängige Anspruch 1 und die abhängigen Ansprüche 2 bis 10 des Hilfsantrags sind somit gewährbar.
9. Obiter dictum
Die Kammer ist sich bewusst, dass die Merkmale des Anspruchs 3 bereits in Anspruch 1 vorhanden sind und Anspruch 3 somit eigentlich überflüssig ist. Ein Fachmann würde sofort erkennen kann, dass Anspruch 3 keinen unterschiedlichen Schutzbereich betrifft als Anspruch 1. Das Vorhandensein dieses Anspruchs im Hilfsantrag ist also gleichbedeutend mit einem Antrag, der den Anspruch 3 nicht mehr erhalten würde.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage des Hilfsantrags und einer anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.

No comments:

Post a Comment

Do not use hyperlinks in comment text or user name. Comments are welcome, even though they are strictly moderated (no politics). Moderation can take some time.