6 December 2017

R 0003/15 - Successful petition for review

Key points

  • The Enlarged Board sets aside T 1225/13 because of violation of the right to be heard, caused by a new interpretation of a claim feature given for the first time in the Board's decision.
  • The EBA finds " einer zum ersten Mal in der Begründung der schriftlichen Entscheidung eingeführten Auslegung des Patentanspruchs 1 " in the Boards's decision. 
  • The case is not an easy one (the Technical Board had a five member composition). The Enlarged Board goes quite deep into the reasoning of the TBA. 
  • The substantive issue seems to boil down to the question whether the penultimate feature that a particular property of the lens is achieved "bei allen Vergrößerungen" in the penultimate feature is limited by the second feature "mit einer mehr als vierfachen Vergrößerung".
  • The procedural violation of "einer zum ersten Mal in der Begründung der schriftlichen Entscheidung eingeführten Auslegung des Patentanspruchs 1 "  is in 4.5.8. The "Auslegung"  appears to refer back to 4.5.3, first sentence (The Board has" festgestellt, dass Anspruch 1 nicht die Bedingung enthält, dass ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° auch bei “niedrigsten Vergrößerungen” erreicht wird"). The Enlarged Board refers to 8.4.2 of the TBA, but I would say that the relevant reasoning of the TBA is in fact in 8.6.2 that " Die Neuheit des Unterscheidungsmerkmals ii) gegenüber [the public prior use] liegt allerdings nicht darin begründet, dass die Formulierung "bei allen Vergrößerungen" ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° auch in dem Zoom-Teilbereich 2,0-2,7 des Fernrohrs IOR erfordern würde. Eine solche Voraussetzung ist durch die beanspruchte Erfindung nicht gestützt. 

EPO R 0003/15 / EPO R 3/15- link


Claim 1 at issue (AR1)


"Fernrohr oder Zielfernrohr, mit einem Mittelrohr (6), das zwischen einem Objektiv (4) und einem Okular (5) angeordnet ist, wobei das Mittelrohr (6) einen maximalen Außendurchmesser von 35 mm aufweist,
"- und wobei das Mittelrohr (6) ein Umkehrsystem (1) enthält, in das eine verstellbare Vergrößerungsoptik mit einer mehr als vierfachen Vergrößerung integriert ist, und die in einem Bauteil ausgeführt sind und die Vergrößerungsoptik durch eine Linsenanordnung mit zumindest zwei relativ zueinander verschiebbaren optischen Elementen (3a, 3b) gebildet ist,"
- wobei das Umkehrsystem (1) zwischen einer objektivseitigen Bildebene (9) und einer okularseitigen Bildebene (10) angeordnet ist,
- und wobei die objektivseitige Bildebene (9) zwischen dem Objektiv (4) und der dem Objektiv (4) zugewandten Seite des Umkehrsystems (1) liegt, und die okularseitige Bildebene (10) zwischen dem Okular (5) und der dem Okular (5) zugewandten Seite des Umkehrsystems (1) liegt,
- und wobei durch das Verschieben zumindest der optischen Elemente (3a, 3b) des Umkehrsystems (1) ein von dem Objektiv (4) in einer objektivseitigen Bildebene (9) entworfenes Zwischenbild mit einem veränderbaren Abbildungsmaßstab und aufgerichtet mit einem maximalen Zoom größer vierfach, in einer okularseitigen Bildebene (10) vergrößert abgebildet ist
- und wobei eine optische Strahlumlenkeinrichtung (2) in das Umkehrsystems (1) integriert ist, wobei die Strahlumlenkeinrichtung (2) durch eine zusätzliche Linsenanordnung gebildet ist, die auf der dem Okular (5) zugewandten Seite des Umkehrsystems (1) angeordnet ist und eine negative Brechkraft zwischen -20 dpt (Dioptrien) und -40 dpt aufweist,
- so dass bei allen Vergrößerungen, mit welchen das objektivseitige Zwischenbild in die okularseitigen Bildebene (10) abgebildet wird, ein subjektives Sehfeld (2omega') der fernoptischen Einrichtung von mindestens 22°, zumindest für Licht mit einer Wellenlänge von etwa 550 nm gewährleistet ist
- und wobei die optische Strahlumlenkeinrichtung (2) auf der vom Okular (5) wegweisenden Seite der okularseitigen Bildebene (10) des Fernrohrs oder Zielfernrohrs angeordnet ist." 


Entscheidungsgründe
Zulässigkeit des Überprüfungsantrags - Antragsfrist
1. [] Der Überprüfungsantrag ist infolgedessen rechtzeitig gestellt worden.
Zu den einzelnen geltend gemachten Verstößen gegen Artikel 113 (1) EPÜ
VERFAHRENSMANGEL I: []
2. Zulässigkeit des Überprüfungsantrags - Rügepflicht gemäß Regel 106 EPÜ
[]
2.4 Der Überprüfungsantrag ist daher hinsichtlich des geltend gemachten schwerwiegenden Verfahrensmangels I nicht zulässig.
VERFAHRENSMANGEL II: überraschende neue Anspruchsauslegung des Begriffes “bei allen Vergrößerungen” und Argumentationslinie bezüglich erfinderischer Tätigkeit in der schriftlichen Entscheidung der Beschwerdekammer
3. Rügepflicht gemäß Regel 106 EPÜ
Die Große Beschwerdekammer stimmt mit der Antragstellerin überein, dass der behauptete Verfahrensmangel II einen Mangel betrifft, der erst mit der Zustellung und der Lektüre der schriftlich begründeten Entscheidung erkennbar wurde. Deshalb war die Antragstellerin nicht in der Lage, entsprechende Einwände schon im Beschwerdeverfahren bzw. in der mündlichen Verhandlung gemäß Regel 106 EPÜ zu erheben. Der Antrag ist daher insoweit zulässig.
4. Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß Artikel 113 (1) EPÜ - überraschende Entscheidungsbegründung
4.1 Allgemeines
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gemäß Artikel 113 (1) EPÜ erfordert es, dass die Entscheidung nur auf Gründe gestützt werden darf, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Dies bedeutet insbesondere, dass ein Beteiligter nicht durch bisher unbekannte Gründe und Beweismittel in der Entscheidungsbegründung überrascht werden darf (vgl. z.B. R 15/09 vom 5. Juli 2010, R 21/10 vom 15. Juni 2012, R 3/13 vom 30. Januar 2014). Unter “Gründe” im Sinne des Artikels 113 (1) EPÜ werden die wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründe verstanden, auf denen eine Entscheidung beruht. Dies bedeutet aber nicht, dass das entscheidende Organ verpflichtet ist, den Beteiligten im Voraus alle Entscheidungsgründe im Einzelnen darzulegen. In den Entscheidungen R 3/10 vom 29. September 2011, R 15/11 vom 13. Mai 2013 und R 16/13 vom 8. Dezember 2014 wurde dem Überprüfungsantrag wegen einer in den Entscheidungsgründen enthaltenen überraschenden Begründung, zu der die Beteiligten sich nicht hatten äußern können, stattgegeben.


4.2 Zum vorliegenden Fall
4.2.1 Zur Beantwortung der Frage, ob der Antragstellerin (Patentinhaberin) in dem Verfahren vor der Beschwerdekammer das rechtliche Gehör nach Artikel 113 (1) in Verbindung mit Artikel 112a (2) c) EPÜ in schwerwiegender Weise versagt worden ist, ist eine sorgfältige Bewertung der getroffenen schriftlichen Entscheidung vor dem Hintergrund des Einspruchs- bzw. des Einspruchsbeschwerdeverfahren notwendig (vgl. z.B. R 16/13 vom 8. Dezember 2014, Entscheidungsgründe Nr. 2; R 8/13 vom 15. September 2015, Entscheidungsgründe Nr. 9; R 4/14 vom 6. Juni 2016, Entscheidungsgründe Nr. 2-7; R 1/15 vom 3. Juni 2016, Entscheidungsgründe Nr. 3).
4.2.2 Die Einspruchsabteilung ist unter Würdigung der Beweismittel bezüglich der offenkundigen Vorbenutzung des Fernrohrs IOR-1 zu dem Schluss gekommen, dass das beanspruchte Fernrohr sich hiervon durch folgende Merkmale unterscheidet:
  • i) Während das Umkehrsystem des Fernrohrs IOR einen variablen Abbildungsmaßstab zwischen 0,45 und 2,73 hat, weist die verstellbare Vergrößerungsoptik des beanspruchten Fernrohrs eine mehr als vierfache Vergrößerung auf;
  • ii) während die objektivseitige und die okularseitige Feldblende des Fernrohrs IOR-1 bewirken, dass das Fernrohr ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° bei einer Vergrößerung von 2,7 bis 12 und von kleiner 22° bei einer Vergrößerung von 2,0 bis 2,7 hat, weist das beanspruchte Fernrohr bei allen Vergrößerungen ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° auf (Unterstreichung von der Großen Beschwerdekammer hervorgehoben), und
  • iii) während die optische Strahlumlenkeinrichtung des Fernrohrs IOR-1 in der okularseitigen Bildebene des Fernrohrs liegt und sie nur unter besonderen Voraussetzungen - z. B. für Objektentfernungen kleiner 96,5 m und bei einer Vergrößerung von 12 - auf der vom Okular wegweisenden Seite der okularseitigen Bildebene liegt, ist die Strahlumlenkeinrichtung bei dem beanspruchten Fernrohr auf der vom Okular wegweisenden Seite der okularseitigen Bildebene des Fernrohrs angeordnet.

4.2.3 Ein wesentlicher Diskussionspunkt im Verfahren vor der Einspruchsabteilung war – wie in dem Überprüfungsantrag von der Antragstellerin geltend gemacht – die Auslegung des Begriffs “bei allen Vergrößerungen” in dem Unterscheidungsmerkmal ii).
4.3 Vor der Einspruchsabteilung
In ihrer Entscheidung (vgl. Entscheidungsgründe Nr. 21.1.2) hat die Einspruchsabteilung diesen Begriff so ausgelegt, dass alle möglichen Vergrößerungen des Fernrohrs IOR-1 darunter fallen. Die Neuheit des Merkmals ii) gegenüber diesem Stand der Technik wurde dann von der Einspruchsabteilung als gegeben angesehen, da das Sehfeld des Fernrohrs IOR-1 im Bereich von Vergrößerungen zwischen 2 und 2.7 kleiner als 22° sei.
4.4 Beschwerdeverfahren – Verfahren vor der schriftlichen Entscheidung
4.4.1 Im Bescheid der Beschwerdekammer vom 30. Juni 2014 zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung wurde zuerst auf die Argumente der Einsprechenden Bezug genommen (Seite 10, erster Absatz), nach denen auch Merkmal ii) aus dem o.g. Stand der Technik bekannt sei. Dann wurde von der Beschwerdekammer darauf hingewiesen, dass sich die bereits in der Entscheidung der Einspruchsabteilung (vgl. unter Nr. 22.1 Absatz (d)) aufgeworfene Frage stelle, ob eine Beschränkung des effektiven Zoombereichs des Fernrohrs IOR-1 zum Merkmal ii) führen könnte und ob eine solche technische Maßnahme für den Fachmann naheliegend wäre (vgl. Seite 11 letzter Absatz).
4.4.2 Hieraus folgt, dass Fragen in Bezug auf das Unterscheidungsmerkmal ii) und den Stand der Technik IOR-1 vor der Beschwerdekammer noch zu diskutieren waren, insbesondere ob dieses Merkmal bekannt oder unter Berücksichtigung aller möglichen Vergrößerungen des Standes der Technik nahegelegt war.
4.5 Beschwerdeverfahren - schriftliche Entscheidung
4.5.1 Nachdem die Beschwerdekammer das Fernrohr IOR-1 als Stand der Technik anerkannte (vgl. auch Protokoll der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer, Seite 5, zweiter Absatz: “die Kammer zur Auffassung gelangt sei, dass das Zielfernrohr IOR mit den von der Einspruchsabteilung festgestellten optischen Eigenschaften und dem festgestellten Aufbau Stand der Technik sei”.), hat sie die Neuheit des Unterscheidungsmerkmals ii) mit der Erwägung bejaht, dass seine Neuheit darin liege, “dass die beanspruchte Erfindung auf den Zoom-Teilbereich 2,0-2,7 (...) verzichtet” (vgl. Entscheidungsgründe 8.6.2). Dieser Verzicht stelle aber eine naheliegende Maßnahme dar.
4.5.2 Bei der Beurteilung der Frage der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von dem Stand der Technik IOR-1 hat sich die Beschwerdekammer mit der Frage auseinandergesetzt, welche objektive technische Aufgabe gelöst wird. Die durch die drei oben angegebenen Unterscheidungsmerkmale erreichten Wirkungen wurden analysiert.
4.5.3 Zuerst hat die Beschwerdekammer sich mit der Auslegung des Wortlauts des Anspruchs 1 auseinandergesetzt und festgestellt, dass Anspruch 1 nicht die Bedingung enthält, dass ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° auch bei “niedrigsten Vergrößerungen” erreicht wird 
(vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.4.2 erster Absatz: Laut Patentschrift wird durch die Erfindung ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° erreicht, und zwar bei allen Vergrößerungen des Fernrohrs und insbesondere “bei niedrigen Vergrößerungen” bzw. “bei der niedrigsten Vergrößerung” (Absatz [0009]). Die letzte Bedingung findet sich allerdings nicht im Patentanspruch 1.)
 und dass der Bereich von Vergrößerungen in der beanspruchten Erfindung nur durch das Merkmal “mit einem maximalen Zoom größer vierfach” beschränkt sei 
(vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.4.2 erster Absatz: So wird der Bereich von Vergrößerungen des Fernrohrs in der beanspruchten Erfindung nur durch das Merkmal "mit einem maximalen Zoom größer vierfach" beschränkt,...). 

Die Beschwerdekammer kommt dann zu dem Ergebnis, dass die tatsächlich erzielte technische Wirkung der Erfindung daher sei, ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° in einem Bereich von Vergrößerungen des Fernrohrs, der einem Zoom-Verhältnis größer vierfach entspricht, zu erreichen (vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.4.2 zweiter Absatz).
4.5.4 Aus dem Vorstehenden ist zu entnehmen, dass aus der Sicht der Beschwerdekammer bei sachgemäßer Auslegung des Wortlauts des Anspruchs 1 das Erreichen eines subjektiven Sehfeld von mindestens 22° losgelöst von der niedrigsten Vergrößerung anzusehen ist. In anderen Worten: es ist für die Feststellung der technischen Wirkung der Unterscheidungsmerkmale nicht notwendig, alle möglichen Vergrößerungen zu berücksichtigen. Es genügt, einen Bereich von Vergrößerungen zu berücksichtigen, in dem das Zoomverhältnis größer vierfach ist.
4.5.5 Diese Auslegung wendet die Beschwerdekammer entsprechend bei der Feststellung der technischen Wirkung gegenüber dem Stand der Technik IOR-1 an. Die Kammer kommt zu dem Ergebnis, dass die Wirkung hinsichtlich des subjektiven Sehfelds von mindestens 22° bereits im Stand der Technik erzielt wird, da dort in dem Bereich von Vergrößerungen zwischen 2,7 und 12 sowohl ein Sehfeld größer 22° als auch ein Zoom-Verhältnis von etwa 4,4 vorhanden ist
 (vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.4.2 dritter Absatz: Das Fernrohr IOR weist aber bereits ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° in dem Bereich von Vergrößerungen zwischen 2,7 und 12 (vgl. Nr. 8.3 oben), d. h. in einem Bereich von Vergrößerungen, der einem Zoom-Verhältnis von etwa 4,4, und damit größer vierfach entspricht.).
4.5.6 Die Beschwerdekammer kommt dann zu dem Schluss, dass die objektiv gelöste Aufgabe lediglich darin besteht, eine alternative Ausführungsform des Fernrohrs IOR-1 bereitzustellen
(vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.4.3: Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass der Auffassung der Einspruchsabteilung, wonach die beanspruchte Merkmalskombination gegenüber dem Fernrohr IOR das Problem eines Tunneleffekts löse, nicht gefolgt werden kann. Es lässt sich mit Blick auf die technische Wirkung der Unterscheidungsmerkmale auch keine andere technische Aufgabe ermitteln, die durch die beanspruchten Unterscheidungsmerkmale gegenüber dem nächstkommenden Stand der Technik eindeutig gelöst würde. Ausgehend von dem Fernrohr IOR kann daher die durch die beanspruchte Erfindung objektiv gelöste technische Aufgabe lediglich darin gesehen werden, eine alternative Ausführungsform des Fernrohrs IOR bereitzustellen.).
4.5.7 Durch diese neue Auslegung des Patentanspruchs 1 wird das Unterscheidungsmerkmal ii) zum Fernrohr IOR-1 (“während die objektivseitige und die okularseitige Feldblende des Fernrohrs IOR bewirken, dass das Fernrohr ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° bei einer Vergrößerung von 2,7 bis 12 und von kleiner 22° bei einer Vergrößerung von 2,0 bis 2,7 hat, weist das beanspruchte Fernrohr bei allen Vergrößerungen ein subjektives Sehfeld von mindestens 22° auf”, vgl. Entscheidungsgründe Nr. 8.3) in Betracht auf die erfinderische Tätigkeit vollständig außer Acht gelassen, weil “alle Vergrößerungen” nur auf den Bereich von 2,7 bis 12 (oder z.B. 2,7-10,8 oder 3-12) bezogen wird.
4.5.8 Die von der Beschwerdekammer vorgenommene neue Formulierung der Aufgabe ausgehend von einer zum ersten Mal in der Begründung der schriftlichen Entscheidung eingeführten Auslegung des Patentanspruchs 1 war bisher sowohl im Einspruchverfahren als auch im Beschwerdeverfahren von keinem der Beteiligten vorgetragen worden. Aus dem Vorbringen der Parteien ist abzuleiten, dass nicht nur die Antragstellerin, sondern auch die Antragsgegnerinnen bei der Diskussion bezüglich des Merkmals ii) von einer anderen Interpretation des Patentanspruchs 1 ausgingen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdekammer ihre neue Sichtweise während der mündlichen Verhandlung erwähnt hat. Dies hat zur Folge, dass die Antragstellerin von dieser Argumentation in der Entscheidung überrascht wurde und zu dieser neuen Argumentation der Beschwerdekammer zur erfinderischen Tätigkeit nicht Stellung nehmen konnte. Hierin liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs.
4.5.9 Zwar wurden - wie von der Antragsgegnerin 03 schriftlich und mündlich vorgetragen - in der oben genannten Mitteilung der Kammer vom 30. Juni 2014 die Fragen aufgeworfen, ob eine Beschränkung des effektiven Zoombereichs des Fernrohrs IOR zum Merkmal ii) führen könnte und ob eine solche technische Maßnahme für den Fachmann naheliegend wäre 
(vgl. Seite 11, letzter Absatz: ... Während der mündlichen Verhandlung wird daher zu erörtern sein, wie die möglichen Unterscheidungsmerkmale mit den übrigen Merkmalen des beanspruchten Fernrohrs zusammenwirken und welche der technischen Wirkungen, die die Beteiligten in Betracht gezogen haben (d.h. ein größerer Geländeausschnitt, der überblickt werden kann, eine Reduzierung des so genannten Tunneleffekts, ein größeres subjektives Sehfeld, usw.), sich aus dieser Zusammenwirkung tatsächlich ergeben. Es stellt sich auch die Frage, ob eine Beschränkung des effektiven Zoombereichs des Fernrohrs IOR zum Merkmal ii) führen könnte ... und ob eine solche technische Maßnahme für den Fachmann naheliegend wäre.).
4.5.10 Diese Fragen wurden aber im Verfahren vor der Beschwerdekammer nicht in dem Kontext der von ihr vorgenommenen und erst aus den schriftlichen Entscheidungsgründen erkennbaren neuen Auslegung des Patentanspruchs 1 angesprochen, nämlich dass bei der Auslegung des Merkmals ii) nicht alle möglichen Vergrößerungen zu berücksichtigen sind und folglich dem Merkmal ii) keine weitere Wirkung, die nicht bereits vom Stand der Technik IOR-1 erreicht wird, zuzuordnen ist. Die wesentlichen Überlegungen, die die Beschwerdekammer in ihrer schriftlichen Entscheidung hinsichtlich des Naheliegens des Merkmals ii) zugrunde gelegt hat, waren deshalb für die Antragstellerin nicht erkennbar und somit überraschend.
4.5.11 Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist auch schwerwiegend, da diese neue Interpretation des Patenanspruchs 1 zu einer neuen Betrachtung der erfinderischen Tätigkeit geführt hat (objektiv gelöste Aufgabe sei lediglich, eine alternative Ausführungsform des Fernrohrs IOR-1 bereitzustellen) und somit zu einem negativen Ergebnis für die Antragstellerin wesentlich beigetragen hat. Dies bedeutet, dass die Antragstellerin zu einer Argumentation nicht Stellung nehmen konnte, die dazu geführt hat, dass ihr Patent widerrufen wurde. Die gesamte Diskussion über das Naheliegen der Erfindung hätte voraussichtlich anders verlaufen und durchaus zu einem anderem Ergebnis führen können, wenn die neue Auslegung des Patentanspruchs 1 mit den Beteiligten erörtert worden wäre.
4.5.12 Die Große Beschwerdekammer kommt somit zu der Schlussfolgerung, dass im Hinblick auf Verfahrensmangel II der in Artikel 112a (2) c) EPÜ in Verbindung mit Artikel 113 (1) EPÜ genannten Grund vorliegt und die angefochtene Entscheidung deshalb aufgehoben werden muss.
VERFAHRENSMANGEL III: Widersprüche in der schriftlichen Entscheidung der Beschwerdekammer (Art. 113 (1) EPÜ i.V.m. Art. 112a (2) c) EPÜ; Regel 102 g) EPÜ)
5. Aufgrund des gerügten Verfahrensfehlers II ist die Große Beschwerdekammer zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die zu überprüfende Entscheidung aufzuheben und das Verfahren vor der Beschwerdekammer wiederzueröffnen ist. Eine Auseinandersetzung mit dem behaupteten Verfahrensfehler III, der nach dem Vorbringen der Antragstellerin aus Widersprüchen in der schriftlichen Entscheidung besteht, erübrigt sich deshalb. Auch die Frage, ob diese Rüge überhaupt zulässig ist, weil sie nicht offensichtlich auf einen im EPÜ genannten Überprüfungsgrund abzielt, kann dahingestellt bleiben.
Ersetzung der Mitglieder der Beschwerdekammer
6. Wird einem Überprüfungsantrag stattgegeben, so kann “die Große Beschwerdekammer ... anordnen, dass Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen sind” (Regel 108 (3) Satz 2 EPÜ). Die Entscheidung, eine Ersetzung von Kammermitgliedern anzuordnen oder nicht, liegt im Ermessen der Großen Beschwerdekammer. Dieses Ermessen ist unter Berücksichtigung des Sachverhalts gerecht und verhältnismäßig auszuüben (siehe R 21/11 vom 15. Juni 2012, Entscheidungsgründe Nr. 27; R 15/11 vom 13. Mai 2013, Entscheidungsgründe Nr. 9).
7. Im vorliegenden Fall wurde der gestellte Antrag auf Ersetzung der Mitglieder der Beschwerdekammer weder in dem mit Schreiben vom 5. März 2015 eingereichten Überprüfungsantrag noch in dem späteren Schreiben der Antragstellerin vom 15. Juli 2016 begründet. Auch in der mündlichen Verhandlung vor der Großen Beschwerdekammer wurden von der Antragstellerin keine substantiellen Gründe vorgetragen; vielmehr wurde ausschließlich der Antrag auf Ersetzung der Mitglieder wiederholt. Die Große Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass die fehlende Substantiierung des Antrags als solche schon ausreichen würde, dem Antrag nicht stattzugeben (vgl. auch R 16/13 vom 8. Dezember 2014, Entscheidungsgründe Nr. 7). Die Große Beschwerdekammer sieht im Übrigen auch inhaltlich keine Veranlassung, in Ausübung ihres Ermessens nach Regel 108 (3) Satz 2 EPÜ eine Ersetzung der Mitglieder anzuordnen. Das Beschwerdeverfahren wird daher vor der Beschwerdekammer, die gemäß der Geschäftsverteilung zuständig ist, wiedereröffnet, d.h. vor der Beschwerdekammer in der Besetzung, die die zu überprüfende Entscheidung erlassen hat. Die Notwendigkeit einer Änderung der Zusammensetzung der Beschwerdekammer ergibt sich jedoch aus der Tatsache, dass zwei ihrer bisherigen Mitglieder in der Zwischenzeit aus dem Dienst ausgeschieden sind. Es obliegt dem Vorsitzenden der Kammer, die neue Zusammensetzung der Kammer zu bestimmen.
Rückzahlung der Gebühr für den Überprüfungsantrag
8. Gemäß Regel 110 EPÜ ordnet die Große Beschwerdekammer die Rückzahlung der Gebühr für einen Antrag auf Überprüfung an, wenn das Verfahren vor den Beschwerdekammern wiedereröffnet wird. Die Anordnung der Rückzahlung der Überprüfungsgebühr ist nach Regel 110 EPÜ zwingend vorgeschrieben. Ein Ermessen nach Billigkeitsgesichtspunkten wie bei der Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 103 (1) a) EPÜ ist nicht vorgesehen. Da im vorliegenden Fall die Bedingung der Wiedereröffnung des Beschwerdeverfahrens erfüllt ist, ist die Rückzahlung der Überprüfungsgebühr anzuordnen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Wiederaufnahme des Verfahrens vor der Beschwerdekammer 3.4.02 wird angeordnet.
3. Die Gebühr für den Antrag auf Überprüfung wird zurückgezahlt.
4. Der Antrag, die Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen, wird zurückgewiesen.

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